Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Samstag, 19. Februar 2011

Picknick in Sodom

Picknick in Sodom

Ein Kater ohne Maus ist ein armes Schwein!“ So stand es auf einer grauen Häuserwand in der Ritterstraße 15. Daneben sah man eine schielende Katze, und eine Maus mit knallroten Lippen. Es mag sein, dass es in Paderborn langweilige Straßen gibt, aber die Ritterstraße gehört nicht dazu.
Eine weitere Attraktion befand sich kaum fünfzig Meter weiter. Das „Ladyshape“, ein Fitness Studio in dem Männer keinen Zutritt hatten.
Die Schaufenster waren mit Milchglasfolie beklebt, und man musste schon größer sein als ein Meter fünfundachtzig, um darüber hinweg blicken zu können.

Jürgen war größer als ein Meter fünfundachtzig.
Er ging fast jeden Tag durch die Ritterstraße, er sah jeden Tag das Graffiti mit der schielenden Katze, aber die durchgeschwitzten Damen, denen der tropfende Pferdeschwanz in den Nacken hing, die hatte er noch nie beobachtet.
Jürgen war 36 , wohnte bei seinen Eltern in der Mansarde und wusste nicht, wie gut es ihm ging – wie sein Vater sagte.
Er hatte einen krisenfesten Job im „Bestattungshaus Erich Bohnsack & Sohn“ in der Nähe der Martinskirche.
Jürgen wählte liberal, trank keinen Alkohol und hatte noch nie eine Zigarette oder ein Mädchen angefasst.
Er aß vegetarisch, bekam ausreichend Taschengeld und würde, eines Tages ( nachdem er seine Eltern zum Einkaufspreis bestattet hatte) das Geschäft seines Vaters übernehmen.
Obwohl es Jürgen Bohnsack an nichts fehlte, denn er hatte nicht nur Satelliten – Fernsehen, sondern war auch Vizemeister im Bielefelder Puzzle Club, antwortete er dennoch auf eine Kontaktanzeige, die er auf „Mr. Loverlover.de“, einer Partnerbörse im Internet, gefunden hatte. 
 
Blonde Akademikerin, 28, schlank, vielseitig interessiert, sucht weltgewandten Ihn mit dem gewissen Etwas.“
Diese Frau hatte von Anfang an keinen guten Einfluss auf ihn. 
Sie machte ihn schon nach dem ersten telefonischen Kontakt zum Lügner. Für sie frisierte er seinen Lebenslauf, korrigierte sein Alter und belog seine Eltern.
Er gab vor, an diesem Morgen nach Essen zu einem Puzzle Turnier zu fahren, aber in Wirklichkeit fuhr er mit dem Zug nach Köln, um Sie zu treffen.
Jürgen war jetzt nicht mehr Jürgen Bohnsack, der Bestattergehilfe aus Paderborn, sondern Jürgen Martin, ein erfolgreicher Broker aus Frankfurt, dem enge, schwarze Anzüge besonders gut standen.
Nachdem der Zug den Rhein überquert hatte, und langsam in die Halle des Kölner Hauptbahnhofs einfuhr, sah Jürgen aus dem Fenster.
Da stand sie, Corinna.
Sie war genau so blond, genau so schlank und genau so hübsch, wie er es sich vorgestellt hatte.
Der Fahrtwind spielte mit ihren Locken und zupfte an ihrem Blümchenkleid.
Jürgen stieg aus dem Zug und ging auf sie zu. Er lächelte und hatte eine Schachtel mit Erfrischungsstäbchen dabei. Frauen mögen Erfrischungsstäbchen.
Hallo, Sie sind...du bist Corinna, oder?“
Ja.Und du, du bist der Jürgen.“
Hier, für dich.“
Oh, das is aber nett von dir,...danke. Ich hab auch was mitgebracht.“
So?“
Hier, ein Picknickkorb mit vielen schönen Sachen drin.“
Und was machen wir damit?“
Wir fahren jetzt mit der Bahn in den Stadtwald, und da machen wir es uns schön – Komm!“ Sie hakte sich bei ihm ein und duftete genauso unglaublich gut nach Flieder und Zitronenmelisse, wie die Öllämpchen bei dieser besonders geschmackvollen Beisetzung, die Jürgen im letzten Jahr ausgerichtet hatte.
Die Bahn rumpelte sie bis an die Haltestelle „ Dürener Straße/Gürtel“, da stiegen sie aus und schlenderten den restlichen Weg bis zum Ententeich zu Fuß weiter.
Hier Jürgen, hier ist es schön, hier tun wir die Decke hin, ja?“
Jürgen nickte und hatte Mühe ihr nicht allzu unverschämt in den Ausschnitt zu sehen.
So, dann wollen wir doch mal sehen, was wir so alles dabei haben.“ Corinna fing an den Korb auszupacken.
Brot, Käse, Weintrauben, eine Leberpastete, saure Gürkchen, etwas klein geschnittenes Gemüse, eine Flasche Bordeaux und zwei Piccolos mit französischem Schaumwein.
Jürgen sah sich um.
Sie waren nicht die Einzigen auf dieser Wiese.
Gleich rechts von ihnen saß eine Frau in mittleren Jahren auf einem Klapphocker. Sie trug einen Strohhut und las in einem Buch. Alle paar Minuten stieß sie einen Seufzer aus, kicherte in sich hinein oder klappte es sogar zu, um das gerade Gelesene mit einem: „Ach du liebe Zeit“, oder „Oh Nein, oh nein, ich lach`mich tot...“ zu kommentieren. Dann betrachtete sie einen Moment den Einband, wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte:„Janek, Janek du bist doch der Beste.“
Die anderen Gäste waren anders. Da gab es Männer, die mit anderen Männern auf einer Decke saßen. Männer, die wie Frauen aussahen, und mit Männern, die auch nicht besonders männlich wirkten, herum turtelten. Manche wirkten wie echte Frauen, aber die hatten dann eine Frau dabei, die aussah wie ein Mann. Es gab eine Gruppe Neger, die ihre Heimatmelodie trommelten, Punker mit großen Hunden und einen Karnevalsprinzen der seinen Rausch ausschlief.
Es war nicht, wie in Paderborn.
So,dann wollen mir erst mal ein Sektchen auf das schöne Wetter... Jürgen, was is mit dir?“
Er deutete in die Runde. „Was ist das?“
Corinna lachte. „Ach, das is hier in Köln ganz normal. Hier kann jeder so jeck sein, wie er will, wir sind da sehr liberal. Hier trink ein Schlückchen und guck nich so.“
Jürgen trank ein ordentliches „Schlückchen“ und beschloss beim nächsten Mal doch lieber die Union zu wählen.
Der Champagner entspannte ihn, und sie machten sich über die Spezialitäten aus dem Körbchen her.
Die Leberpastete lehnte er dankend ab, aber Bordeaux und Käse waren eine köstliche Verbindung. Die ungewohnte Nachbarschaft verschwand aus seinem Blickfeld, und nach einer Weile gab es außer Corinna nichts anderes mehr, was ihn interessierte. Ihre Blicke trafen sich immer öfter und er musste sich wirklich zusammenreißen, um ihr nicht dauernd auf den Mund zu starren.
Möchtest du noch?“ fragte sie.
Wie?“
Wein, meine ich... möchtest du noch welchen?“
Was?“
Noch ein Schlückchen, ja?“
Ich weiß nich...“ sagte er.
Ja?“
Nein, ich hätte lieber was anderes...“
Was anderes? Schlückchen Sekt, oder Wasser?“
... ein Küsschen hätte ich gern. Das würde mir gefallen, glaube ich.“ Jürgen blickte herausfordernd auf seine Zehenspitzen.
Ein Küsschen?“
Ja,...das würde mir gefallen.“
Da müssten wir aber erst ein paar Krümmel von deiner Schnüss entfernen.“
Das könnten wir doch machen...ich meine, Du könntest das ja vielleicht...machen.“
Ich soll das machen? Warum?“
Hab gerade keine Zeit..“sagte er.
Du hast kein Zeit?“
Nein,...ich muss gerade an was besonders Schönes denken.“
Woran musst du denken?“
An Dich...“

Corinna ließ die Serviette fallen, die Krümel blieben, wo sie waren und sie kam über ihn wie eine Südseewelle. Weich, feucht, warm und unwiderstehlich. Jürgen hatte dem nichts entgegen zu setzen und sank rückwärts ins Gras.
An seinem Hinterkopf fühlte er etwas weiches - das konnte die Leberpastete sein, oder auch der Camembert, aber das war in diesem Moment nicht wichtig. Wichtig war nur Corinnas Mund, der auf seinem Gesicht eine kühle Spur hinterließ, und wie der eines hungrigen Säuglings nach seinen Lippen suchte.
Sie verbiss sich in seiner Unterlippe, dann war sie plötzlich überall. Wie ein Krake mit acht Armen und Beinen, mit Knien, Händen, Füßen, einer Unzahl von Brüsten und Fingernägeln.
Jürgens freudige Überraschung wandelte sich in Panik.
Er krallte seine Finger ins Gras und bekam einen Krampf in der linken Wade. Er griff in ihre goldenen Locken, um sie von sich weg zu ziehen, was Corinna jedoch falsch verstand, und ihre Anstrengungen verdoppelte.
Jürgen wollte sich geschlagen geben, wollte ein Ende machen und schlug mit der flachen Hand auf den Boden, wie es unterlegene Ringer tun, aber Corinna bemerkte es nicht.
Er schlug mit beiden Händen auf den Rasen, was sie als sicheres Zeichen dafür deutete, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand.
Jürgens Hände trommelten auf das frische Grün. Corinna zerriss sein Hemd und bearbeitete seinen Hals.
Jürgen zappelte mit den Beinen, was seine Krämpfe linderte, Corinna aber in keinster Weise irritieren konnte.
Dann gab er auf.
Es hatte keinen Sinn, er war ihr nicht gewachsen,
Er entspannte sich und ließ geschehen, was er nicht ändern konnte.
Wie ein Sommergewitter, dass aus heiterem Himmel hereinbricht und dann genauso schnell wieder verschwindet, war es vorbei.
Corinna schwang sich von ihm herunter, schüttelte ihre Locken und setzte sich in keuscher Anmut zurück auf ihren Platz.
So, ungefähr?“ sagte sie.

Jürgen setzte sich auf - Applaus brandete ihm entgegen.
Weiter,weiter. Meeeehr davon!“
Bütze, Bütze! Los Jung`,los !“
Jürgen blinzelte in die Runde - es waren die merkwürdigen
Nachbarn“. Sie klatschten und grölten und schlugen sich auf die Schenkel.
Los Jung`, du bis dran! Zieh et Hemd aus und zeich mal wasse kanns.“
Jenau! Du bis jetzt dran mit Küsschen geben!“
Ja Jung, kratz dich den Käse vom Kopp un leg los.“
Auch die Dame mit dem Sonnenhut schlug im Takt auf ihre
Lieblingslektüre.
Corinna nippte an ihrem Glas und sah ihm merkwürdig schüchtern entgegen.
Schüchtern, aber erwartungsvoll.
Ihre braunen Augen waren wie Strudel, wie Tore in eine andere Welt, von der Jürgen nichts wusste.
Er wollte aufstehen, aber der Schwindel in seinem Kopf ließ seine Beine zu Lakritze werden.
Die Negerband übernahm den Groove der älteren Dame, eine Narrenkappe flog durch die Luft und kreuzte die Flugbahn eines schwarzen Lederkäppis.
Er musste weg
Jürgen kroch auf allen Vieren davon, aber er kam nicht auf die Füße. Er schlingerte und schwankte. Seine Beine versagten den Dienst. Er landete im Duft des Rasens und der Gänseblümchen, die er vorher noch nie so groß gesehen hatte. Das Klatschen und die Rufe tosten und rauschten um ihn herum. Er fühlte sich wie ein Quarterback den man gefoult hatte. 
 
Der Applaus, der Jubel das Getrommel und die begeisterten Pfiffe – es war wie in einem Stadion. Und das waren seine Fans, die ihn anfeuerten - Ihn!
Er war der Quarterback an den sie glaubten!
Er musste es schaffen... und er würde es schaffen.
Für sie, für sich selbst und für Corinna.
Jürgen zog sich das T-Shirt über den Kopf.

Es war spät, als er endlich wieder zu hause ankam.
Als er nach seinem Schlüssel suchte, ging die Außenbeleuchtung an, und die Tür öffnete sich.
Jürgen?“
Ja, Mama.“
Hör mal, wieso kommst du eigentlich erst jetzt...aber wie siehst du denn aus? Und wie du riechst! Hast du etwa...Alkohol getrunken?“
Jürgen drückte sich an ihr vorbei.
Bin überfallen worden.“
Überfallen? Hier in Paderborn?“
Nein Mama, in Sodom.“ er stieg die Treppe hinauf.
In Sodom? Also ich verstehe kein Wort..Sodom und Gomorrha?“
Da auch.“
Und was hast du da in deinen Haaren?“
Camembert.“








4 Kommentare:

  1. Lieber Janek,

    diese Fassung ist toll. Auch, dass du irgendwo immer dabei bist (hier: Janek als Autor :-)
    finde ich einfallsreich.
    Sehr schön.
    Und wo sind die neuen Geschichten?

    LG Luisa

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  2. Danke Luisa.
    Die neuen Geschichten werden kommen (hoffentlich),
    aber so schnell bin ich nun auch wieder nicht.
    Bis bald
    Janek

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  3. Hallo Janek,

    ein erlebnisreiches Picknick, für wahr.
    Ich freue mich schon auf deine nächste Geschichte.

    Sonnige Grüße,
    Monika

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  4. Hallo Monika,
    sonnige Grüße kann man nie genug
    bekommen.
    Gruß
    Janek

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