Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Montag, 7. Mai 2012

Das Knochenmärchen


Das Knochenmärchen

Sie saß einfach an diesem Morgen an unserem Küchentisch.
Damals im „Künstlerbunker“, einem dreistöckigen Altbau in der Schillergasse, wo sich die „bunte Szene“ eingenistet hatte.
Ich kannte sie nicht, aber wir hatten ständig Besuch von irgendwelchen Leuten. Vielleicht war sie die neueste Eroberung von einem meiner Mitbewohner, vielleicht war sie auch nur von der letzten Party übrig geblieben.
Sie war hübsch, wenn einem blonde Püppchen mit weißer Bluse und Faltenrock gefielen.
Ich rückte einen benutzten Becher zu ihr hin, um zu sehen, ob sie ihn annehmen würde. „Kaffee?“ sagte ich.
Oh ja, bitte“, sie wischte ein paar Krümel beiseite.
Ich griff „Omas Familienkanne“, ein Monstrum, mit drei Litern Fassungsvermögen und einem Reichsadler auf dem Boden,
schenkte ihr ein und kleckerte absichtlich etwas auf die ohnehin schon fleckige Tischdecke.
Sie trug karierte Kniestümpfe von Burlington und flache Lederschuhe mit kleinen Bommeln oben drauf.
Milch und Zucker?“ fragte ich.
Nur Milch, bitte.“
Die ist im Kühlschrank, musst du dir eben selber nehmen.“
Dass die Milch im Kühlschrank war, wusste ich. Was sich da sonst noch so herum trieb, wollte ich lieber nicht wissen.
Sie stand auf, und ich bemerkte, dass sie recht ansprechende Kniekehlen hatte. In ihrer Aufmachung hätte sie gut in eine Bankfiliale oder ins Finanzamt gepasst.
Sie öffnete die Kühlschranktür, nahm die Milch heraus und schloss sie wieder. Der Entsetzensschrei, auf den ich gewartet hatte, blieb aus.
Den Kühlschrank nannten wir nur die „Kammer des grunzenden Schimmels“, und es ging unter Eingeweihten die Rede, man solle sich wenigstens mit einem Knüppel bewaffnen, bevor man die Tür öffnete. Sie goss die Milch, die ausnahmsweise mal nicht in fettigen Klümpchen aus der Tüte gestolpert kam, in ihre Tasse.
Ich kramte meine Pfeife hervor und stopfte sie mit meiner Privatmischung aus fünf verschiedenen Tabaksorten und einer Prise von dem „Kraut das fröhlich macht“. Wer sich auskennt, weiß wovon ich rede.
Wie heißt du?“ fragte ich.
Karina, und du?“
Jean Henri“, ich hatte meinen Namen ein wenig meinem Künstlerstatus angepasst.
Wohnst du hier?“ sie hielt ihre Tasse in beiden Händen und starrte hinein.
Ja, ich bin einer von den Wenigen, die hier nicht „vorübergehend“ zu Gast sind, und sogar ein Wenig Miete zahlen.“
Dann bist du also auch ein Künstler?“
Ach, so würde ich das nicht nennen, ich ziehe den Begriff „kreativ“ vor. Ich bin nur ein Kreativer, ein Schaffender.“
Und was machst du, Malerei?“
Ich zog an meiner Pfeife und erzeugte ein paar gelangweilte Nebelschwaden.
Hm“, sagte ich, „was die Musen angeht, bin ich durchaus für die Vielweiberei. Je nachdem, welche von ihnen dran ist, male ich oder haue etwas in Stein. Manchmal schreibe ich, und wenn mir das alles zu langweilig wird, dann mache ich Musik, um den Kopf wieder frei zu kriegen. Und du, was machst du so?“
Ich bin bei den Stadtwerken im Büro. Ich bin verantwortlich für die Abrechnungen – Gas, Wasser und so.“
Ich hätte mich totlachen mögen, weil meine Vermutung so dicht an der Wahrheit gewesen war.
Eine „Büroschnecke“ oder besser: eine „Biedermeier - Büroschnecke“ hatte sich in unsere Küche verlaufen!
Na ja“, sagte ich, „ solche Arbeit muss ja auch gemacht werden.“
Sie nahm einen Schluck Kaffee: „Es ist nicht so schlecht da. Man verdient sein Geld, und alle zwei Jahre wird man befördert.“ Sie sah zu mir herüber : „Ein schönes Armband hast du da. Ist das selbst gemacht?“
Sie hatte recht, das Armband an meinem linken Handgelenk war wirklich gelungen. Muschelstückchen und durchbohrte Klumpen von grünem Glas. Ich hatte es auf dem Flohmarkt erstanden.
Ja“, sagte ich, „ist selbst gemacht, aber ich will nicht weiter darüber reden.“
Wieso nicht?“
Es würde dich schockieren, wenn ich dir erzähle, wie ich es gemacht habe, und das will ich nicht.“ Ihre Aufmerksamkeit hatte ich, soviel war sicher.
Warum sollte es mich schockieren? Es ist doch nur Glas und weiße Steine, oder Muscheln.“
Von wegen“ , sagte ich, „Glas stimmt, aber das Weiße sind bestimmt keine Muscheln.“
Nein? Was ist es denn dann?“
Knochen.“
Was für Knochen?“
Affenknochen.“
Affenknochen?“
Von einem Rhesusäffchen.“
Wie kommt man denn an so was?“
Ich schüttelte den Kopf: „Es würde dich erschrecken, glaube mir.“
Ich erschrecke mich bestimmt nicht, los, sag schon.“
Also gut. Ich habe den Affen im Internet bestellt. Das war ganz unproblematisch, und teuer war der auch nicht – vierzig Euro, oder so.“
Und was wolltest du mit dem?“
Ich hatte gelesen, dass Rhesusäffchen ganz besonders kluge Tiere sind. Und da wollte ich mal etwas ausprobieren.“
Ausprobieren?“
Ich wollte ihm etwas beibringen.“
Und was?“
Sprechen. Ich wollte, dass er sprechen lernt, und vielleicht hätte ich ihm dann später auch das ein oder andere Volkslied beigebracht.“
Und?“
Hat nicht funktioniert. Das blöde Vieh hat nur rumgekreischt, alles mögliche kaputt gemacht und auf mein Bett gepinkelt.“
Und dann?“
Ich habe es ganze zwei Tage versucht, dann hatte ich die Nase voll. Kein Wort wollte er sprechen, der absolute Fehlkauf war das.“
Karina rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, und es war klar, dass ihr langsam Mulmig wurde. Aber ihre Neugier war stärker.
Hast du ihm einen Namen gegeben?“
Coco, ich habe ihn Coco genannt, es gibt da so eine Sendung im Kinderkanal. Ich fand das ganz passend.“
Und … was hast du dann mit … Coco gemacht?“
Was ich gemacht habe, was ich gemacht habe … ich glaube nicht, dass du das wirklich wissen willst.“
„Doch, ich will das wissen, bestimmt.“
Tja, Karina, du kleine fliederweiße Büropomeranze, dachte ich, dann mach dich mal auf was gefasst.
Ich beugte mich vor, sah ihr direkt in die Augen und ließ meine Stimme zu einem düsteren Flüstern werden: „Ich habe ihn gefangen. Mit Bananenstückchen habe ich einen Pfad durch mein Zimmer gelegt, bis ganz dicht an meinen Stuhl. Der Affe war vorsichtig, aber auch verfressen und lange nicht so schlau, wie ich geglaubt hatte. Ich verhielt mich unbeteiligt und habe gewartet. Er kam näher und stopfte die Bananen in sich rein. Er war nervös, ist immer wieder zurückgewichen und hat in die Luft geschnuppert, als ob er eine Gefahr wittern wollte. Dann war er nahe genug. Ich habe blitzschnell nach ihm gegriffen, seine Beine erwischt und ihn dann sofort drei mal, Bam! Bam! Bam! mit dem Kopf auf die Tischplatte geschlagen. Er hat nicht viel gespürt, glaube ich. Die Schädelsplitter habe ich behalten und für das Armband verwendet – den Rest habe ich in meinem Ofen gestopft und verbrannt. In meiner Bude stinkt es immer noch danach.“
Die gute Karina hatte um die Nase herum etwas Farbe verloren, und die Kaffeetasse zitterte in ihren Händen.
Aber das ist ja schrecklich“, sagte sie.
Ich stopfte meine Pfeife nach: „ Er hat es nicht anders verdient, hätte ja sprechen lernen können, der Blödmann. Du wolltest es wissen, jetzt weißt du es.“
Sie nahm einen großen Schluck aus ihrer Tasse: „ Du hast ihn umgebracht. Du hast dem armen kleinen Coco adoptiert, ihm sogar einen Namen gegeben und ihn dann auf so kaltblütige Art erschlagen ...und dann, dann hast du auch noch aus seinen Knochen ein Armband gemacht?“
Ich zuckte mit den Schultern.
Du ...“, sagte sie, „du bist wirklich ... „
Was bin ich?“
Sie sah auf ihre Schuhe : „Du bist wirklich ein Künstler.“
Wie?“
Jean“, sagte sie, „ schenkst du es mir?“
Was meinst du, das Armband?“
Sie legte den Kopf zur Seite und schenkte mir einen verträumt glitzernden, himmelblauen Blick.
Hinterher, meine ich“ sagte sie und öffnete einen Knopf an ihrer weiß-gestärkten Bluse.