Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Samstag, 19. Februar 2011

Picknick in Sodom

Picknick in Sodom

Ein Kater ohne Maus ist ein armes Schwein!“ So stand es auf einer grauen Häuserwand in der Ritterstraße 15. Daneben sah man eine schielende Katze, und eine Maus mit knallroten Lippen. Es mag sein, dass es in Paderborn langweilige Straßen gibt, aber die Ritterstraße gehört nicht dazu.
Eine weitere Attraktion befand sich kaum fünfzig Meter weiter. Das „Ladyshape“, ein Fitness Studio in dem Männer keinen Zutritt hatten.
Die Schaufenster waren mit Milchglasfolie beklebt, und man musste schon größer sein als ein Meter fünfundachtzig, um darüber hinweg blicken zu können.

Jürgen war größer als ein Meter fünfundachtzig.
Er ging fast jeden Tag durch die Ritterstraße, er sah jeden Tag das Graffiti mit der schielenden Katze, aber die durchgeschwitzten Damen, denen der tropfende Pferdeschwanz in den Nacken hing, die hatte er noch nie beobachtet.
Jürgen war 36 , wohnte bei seinen Eltern in der Mansarde und wusste nicht, wie gut es ihm ging – wie sein Vater sagte.
Er hatte einen krisenfesten Job im „Bestattungshaus Erich Bohnsack & Sohn“ in der Nähe der Martinskirche.
Jürgen wählte liberal, trank keinen Alkohol und hatte noch nie eine Zigarette oder ein Mädchen angefasst.
Er aß vegetarisch, bekam ausreichend Taschengeld und würde, eines Tages ( nachdem er seine Eltern zum Einkaufspreis bestattet hatte) das Geschäft seines Vaters übernehmen.
Obwohl es Jürgen Bohnsack an nichts fehlte, denn er hatte nicht nur Satelliten – Fernsehen, sondern war auch Vizemeister im Bielefelder Puzzle Club, antwortete er dennoch auf eine Kontaktanzeige, die er auf „Mr. Loverlover.de“, einer Partnerbörse im Internet, gefunden hatte. 
 
Blonde Akademikerin, 28, schlank, vielseitig interessiert, sucht weltgewandten Ihn mit dem gewissen Etwas.“
Diese Frau hatte von Anfang an keinen guten Einfluss auf ihn. 
Sie machte ihn schon nach dem ersten telefonischen Kontakt zum Lügner. Für sie frisierte er seinen Lebenslauf, korrigierte sein Alter und belog seine Eltern.
Er gab vor, an diesem Morgen nach Essen zu einem Puzzle Turnier zu fahren, aber in Wirklichkeit fuhr er mit dem Zug nach Köln, um Sie zu treffen.
Jürgen war jetzt nicht mehr Jürgen Bohnsack, der Bestattergehilfe aus Paderborn, sondern Jürgen Martin, ein erfolgreicher Broker aus Frankfurt, dem enge, schwarze Anzüge besonders gut standen.
Nachdem der Zug den Rhein überquert hatte, und langsam in die Halle des Kölner Hauptbahnhofs einfuhr, sah Jürgen aus dem Fenster.
Da stand sie, Corinna.
Sie war genau so blond, genau so schlank und genau so hübsch, wie er es sich vorgestellt hatte.
Der Fahrtwind spielte mit ihren Locken und zupfte an ihrem Blümchenkleid.
Jürgen stieg aus dem Zug und ging auf sie zu. Er lächelte und hatte eine Schachtel mit Erfrischungsstäbchen dabei. Frauen mögen Erfrischungsstäbchen.
Hallo, Sie sind...du bist Corinna, oder?“
Ja.Und du, du bist der Jürgen.“
Hier, für dich.“
Oh, das is aber nett von dir,...danke. Ich hab auch was mitgebracht.“
So?“
Hier, ein Picknickkorb mit vielen schönen Sachen drin.“
Und was machen wir damit?“
Wir fahren jetzt mit der Bahn in den Stadtwald, und da machen wir es uns schön – Komm!“ Sie hakte sich bei ihm ein und duftete genauso unglaublich gut nach Flieder und Zitronenmelisse, wie die Öllämpchen bei dieser besonders geschmackvollen Beisetzung, die Jürgen im letzten Jahr ausgerichtet hatte.
Die Bahn rumpelte sie bis an die Haltestelle „ Dürener Straße/Gürtel“, da stiegen sie aus und schlenderten den restlichen Weg bis zum Ententeich zu Fuß weiter.
Hier Jürgen, hier ist es schön, hier tun wir die Decke hin, ja?“
Jürgen nickte und hatte Mühe ihr nicht allzu unverschämt in den Ausschnitt zu sehen.
So, dann wollen wir doch mal sehen, was wir so alles dabei haben.“ Corinna fing an den Korb auszupacken.
Brot, Käse, Weintrauben, eine Leberpastete, saure Gürkchen, etwas klein geschnittenes Gemüse, eine Flasche Bordeaux und zwei Piccolos mit französischem Schaumwein.
Jürgen sah sich um.
Sie waren nicht die Einzigen auf dieser Wiese.
Gleich rechts von ihnen saß eine Frau in mittleren Jahren auf einem Klapphocker. Sie trug einen Strohhut und las in einem Buch. Alle paar Minuten stieß sie einen Seufzer aus, kicherte in sich hinein oder klappte es sogar zu, um das gerade Gelesene mit einem: „Ach du liebe Zeit“, oder „Oh Nein, oh nein, ich lach`mich tot...“ zu kommentieren. Dann betrachtete sie einen Moment den Einband, wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte:„Janek, Janek du bist doch der Beste.“
Die anderen Gäste waren anders. Da gab es Männer, die mit anderen Männern auf einer Decke saßen. Männer, die wie Frauen aussahen, und mit Männern, die auch nicht besonders männlich wirkten, herum turtelten. Manche wirkten wie echte Frauen, aber die hatten dann eine Frau dabei, die aussah wie ein Mann. Es gab eine Gruppe Neger, die ihre Heimatmelodie trommelten, Punker mit großen Hunden und einen Karnevalsprinzen der seinen Rausch ausschlief.
Es war nicht, wie in Paderborn.
So,dann wollen mir erst mal ein Sektchen auf das schöne Wetter... Jürgen, was is mit dir?“
Er deutete in die Runde. „Was ist das?“
Corinna lachte. „Ach, das is hier in Köln ganz normal. Hier kann jeder so jeck sein, wie er will, wir sind da sehr liberal. Hier trink ein Schlückchen und guck nich so.“
Jürgen trank ein ordentliches „Schlückchen“ und beschloss beim nächsten Mal doch lieber die Union zu wählen.
Der Champagner entspannte ihn, und sie machten sich über die Spezialitäten aus dem Körbchen her.
Die Leberpastete lehnte er dankend ab, aber Bordeaux und Käse waren eine köstliche Verbindung. Die ungewohnte Nachbarschaft verschwand aus seinem Blickfeld, und nach einer Weile gab es außer Corinna nichts anderes mehr, was ihn interessierte. Ihre Blicke trafen sich immer öfter und er musste sich wirklich zusammenreißen, um ihr nicht dauernd auf den Mund zu starren.
Möchtest du noch?“ fragte sie.
Wie?“
Wein, meine ich... möchtest du noch welchen?“
Was?“
Noch ein Schlückchen, ja?“
Ich weiß nich...“ sagte er.
Ja?“
Nein, ich hätte lieber was anderes...“
Was anderes? Schlückchen Sekt, oder Wasser?“
... ein Küsschen hätte ich gern. Das würde mir gefallen, glaube ich.“ Jürgen blickte herausfordernd auf seine Zehenspitzen.
Ein Küsschen?“
Ja,...das würde mir gefallen.“
Da müssten wir aber erst ein paar Krümmel von deiner Schnüss entfernen.“
Das könnten wir doch machen...ich meine, Du könntest das ja vielleicht...machen.“
Ich soll das machen? Warum?“
Hab gerade keine Zeit..“sagte er.
Du hast kein Zeit?“
Nein,...ich muss gerade an was besonders Schönes denken.“
Woran musst du denken?“
An Dich...“

Corinna ließ die Serviette fallen, die Krümel blieben, wo sie waren und sie kam über ihn wie eine Südseewelle. Weich, feucht, warm und unwiderstehlich. Jürgen hatte dem nichts entgegen zu setzen und sank rückwärts ins Gras.
An seinem Hinterkopf fühlte er etwas weiches - das konnte die Leberpastete sein, oder auch der Camembert, aber das war in diesem Moment nicht wichtig. Wichtig war nur Corinnas Mund, der auf seinem Gesicht eine kühle Spur hinterließ, und wie der eines hungrigen Säuglings nach seinen Lippen suchte.
Sie verbiss sich in seiner Unterlippe, dann war sie plötzlich überall. Wie ein Krake mit acht Armen und Beinen, mit Knien, Händen, Füßen, einer Unzahl von Brüsten und Fingernägeln.
Jürgens freudige Überraschung wandelte sich in Panik.
Er krallte seine Finger ins Gras und bekam einen Krampf in der linken Wade. Er griff in ihre goldenen Locken, um sie von sich weg zu ziehen, was Corinna jedoch falsch verstand, und ihre Anstrengungen verdoppelte.
Jürgen wollte sich geschlagen geben, wollte ein Ende machen und schlug mit der flachen Hand auf den Boden, wie es unterlegene Ringer tun, aber Corinna bemerkte es nicht.
Er schlug mit beiden Händen auf den Rasen, was sie als sicheres Zeichen dafür deutete, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand.
Jürgens Hände trommelten auf das frische Grün. Corinna zerriss sein Hemd und bearbeitete seinen Hals.
Jürgen zappelte mit den Beinen, was seine Krämpfe linderte, Corinna aber in keinster Weise irritieren konnte.
Dann gab er auf.
Es hatte keinen Sinn, er war ihr nicht gewachsen,
Er entspannte sich und ließ geschehen, was er nicht ändern konnte.
Wie ein Sommergewitter, dass aus heiterem Himmel hereinbricht und dann genauso schnell wieder verschwindet, war es vorbei.
Corinna schwang sich von ihm herunter, schüttelte ihre Locken und setzte sich in keuscher Anmut zurück auf ihren Platz.
So, ungefähr?“ sagte sie.

Jürgen setzte sich auf - Applaus brandete ihm entgegen.
Weiter,weiter. Meeeehr davon!“
Bütze, Bütze! Los Jung`,los !“
Jürgen blinzelte in die Runde - es waren die merkwürdigen
Nachbarn“. Sie klatschten und grölten und schlugen sich auf die Schenkel.
Los Jung`, du bis dran! Zieh et Hemd aus und zeich mal wasse kanns.“
Jenau! Du bis jetzt dran mit Küsschen geben!“
Ja Jung, kratz dich den Käse vom Kopp un leg los.“
Auch die Dame mit dem Sonnenhut schlug im Takt auf ihre
Lieblingslektüre.
Corinna nippte an ihrem Glas und sah ihm merkwürdig schüchtern entgegen.
Schüchtern, aber erwartungsvoll.
Ihre braunen Augen waren wie Strudel, wie Tore in eine andere Welt, von der Jürgen nichts wusste.
Er wollte aufstehen, aber der Schwindel in seinem Kopf ließ seine Beine zu Lakritze werden.
Die Negerband übernahm den Groove der älteren Dame, eine Narrenkappe flog durch die Luft und kreuzte die Flugbahn eines schwarzen Lederkäppis.
Er musste weg
Jürgen kroch auf allen Vieren davon, aber er kam nicht auf die Füße. Er schlingerte und schwankte. Seine Beine versagten den Dienst. Er landete im Duft des Rasens und der Gänseblümchen, die er vorher noch nie so groß gesehen hatte. Das Klatschen und die Rufe tosten und rauschten um ihn herum. Er fühlte sich wie ein Quarterback den man gefoult hatte. 
 
Der Applaus, der Jubel das Getrommel und die begeisterten Pfiffe – es war wie in einem Stadion. Und das waren seine Fans, die ihn anfeuerten - Ihn!
Er war der Quarterback an den sie glaubten!
Er musste es schaffen... und er würde es schaffen.
Für sie, für sich selbst und für Corinna.
Jürgen zog sich das T-Shirt über den Kopf.

Es war spät, als er endlich wieder zu hause ankam.
Als er nach seinem Schlüssel suchte, ging die Außenbeleuchtung an, und die Tür öffnete sich.
Jürgen?“
Ja, Mama.“
Hör mal, wieso kommst du eigentlich erst jetzt...aber wie siehst du denn aus? Und wie du riechst! Hast du etwa...Alkohol getrunken?“
Jürgen drückte sich an ihr vorbei.
Bin überfallen worden.“
Überfallen? Hier in Paderborn?“
Nein Mama, in Sodom.“ er stieg die Treppe hinauf.
In Sodom? Also ich verstehe kein Wort..Sodom und Gomorrha?“
Da auch.“
Und was hast du da in deinen Haaren?“
Camembert.“








Donnerstag, 17. Februar 2011

Das Beste am Sex

Das Beste am Sex

Bruno Blümchen hat den falschen Namen.
Er gehört zu den wenigen Leuten, die beim betreten eines Raumes nicht nur den Kopf einziehen, sondern auch den Oberkörper seitwärts drehen müssen, damit sie nicht in der Türöffnung stecken bleiben.
Bruno ist Steuermann und Besatzung in einer Person auf der „Olga“, dem Kutter von Kapitän Hansen. Mehr Leute braucht Hansen nicht.

Am letzten Samstag saßen wir, wie immer, im „Anker“ und tranken schweigend unser Bier. Manche Leute halten uns Küstenbewohner deshalb für ungesellig und wortkarg, aber das stimmt nicht. Das ist nur ein Gerücht, das die Rheinländer über uns verbreiten.
Bruno und ich saßen also zusammen an einem der gescheuerten Holztische und sahen dem Rauch unserer Zigaretten hinterher. Wir hatten gerade unser sechstes Bier in Arbeit, da legte er mir plötzlich seine Pranke auf den Arm uns sah mich aus wässrig – blauen Augen an.
Jan“, sagte er.
Hm?“
Du bist doch mein Freund, oder?“
Ja.“
Jan, mein Freund, soll ich dir mal was verraten?“
Was?“
Ich hab` da was raus gefunden.“
Ach.“
Er nahm einen kräftigen Schluck, als ob er sich erst Mut antrinken müsste. Dann kratzte er sich am Kinn.
Ja“, sagte er, “weißt Du eigentlich, was dat Beste am Sex ist?“
Wie?“
Ich frage dich, ob du weißt, was das Beste am Sex ist.“
Die Stimmen am Nachbartisch wurden deutlich leiser und ich fühlte mich völlig überrumpelt. Also versuchte ich kein allzu dummes Gesicht zu machen und zuckte mit den Schultern.
Bruno drehte sich zu den Anderen um.
Wenn ihr hier schon zuhört, dann könnt Ihr mir das ja vielleicht mal sagen.“
Was sollen wir dir sagen?“
Bruno machte eine ausholende Bewegung und sein Bier schwappte auf die Hose von Karl Martens unserem Krabbenhändler.
Ich will von euch wissen, was dat Beste am Sex ist, ihr Plattfische!“
Martens holte sein Taschentuch raus und versuchte seine Hose zu trocknen. „Mensch Bruno, was machst du hier für`n Aufstand. Jetzt sieh dir mal meine Hose an. Ich stink` jetzt ja wie`n ganzer Bierlaster.“
Dat macht nichts, Karl, normaler weise riechst du wie`n Fischmarkt“, Bruno erhob sich. Er wich der Deckenlampe aus und schwankte rüber zu Martens und den anderen Männern.
Ich will von Euch wissen...“ sagte er und hob seinen Arm, „was dat Beste am Sex ist!“ Seine Faust donnerte auf die Tischplatte. Der Aschenbecher verteilte seinen Inhalt gleichmäßig auf dem Fichtenholz und die Männer konnten nur mit Mühe ihre Gläser retten.
Bruno, laß` uns in Ruhe. Wir sind doch alle viel zu lange verheiratet, um uns an sowas noch zu erinnern“, Bernd Claasen unser Hafenmeister war sichtlich verärgert. Die anderen nickten.
Also, ich weiß das schon...“, hörte man auf einmal eine dünne Stimme aus dem Hintergrund. Es war Fiete Osterhaus, unser Postbote.
Wat weißt du?“ sagte Bruno.
Na, ich weiß da schon was von...von den Sex und so...meine ich.“
Ach ja?! Dann erzähl uns doch mal, was du so alles weißt.“
Brunos Zeigefinger zielte in Fiete`s Richtung.
Der arme Fiete hatte noch nie eine besonders gesunde Gesichtsfarbe gehabt,, aber jetzt sah er aus, wie ne Wasserleiche nach drei Tagen.
Er nippte tapfer an seinem Alsterwasser und sagte: “Ja, also..will mal sagen... wenn die Deern zum Beispiel eigentlich ganz hübsch ist...Und wenn man denn auch vielleicht gerade zufällig hinterm Deich...oder auch inner Scheune...und wenn das dann da so schön warm ist, und die Sonne scheint...und man vielleicht auch noch einen Picknickkorb...“
Blödsinn!“ sagte Bruno.
Fiete zog sich hinter sein Bierglas zurück und für einen Moment herrschte absolutes Schweigen.
Dann werde euch jetzt mal aufklären“, sagte Bruno.“Das Beste am Sex ist nämlich: Wenn dabei was schief geht.“
Wir waren sprachlos. Selbst die Ältesten unter uns hatten so einen Blödsinn ihr Lebtag noch nicht gehört.
Das Beste am Sex ist“, sagte er, “wenn etwas dabei schief geht, und schon nach nur knapp zwei Jahren... sitzt einer neben dir auf`m Sofa und klaut dein Käsebrot.“ Er wuschelte mir durch die Haare, klopfte mir auf die Schulter und sein Grinsen wurde nur noch von seinen Ohrläppchen aufgehalten. Er warf einen fragenden Blick in die Runde.
Mensch“; sagte Fiete Osterhaus plötzlich, “Bruno is schwanger!“
Ach wat“, sagte Bernd Claasen,“ das is ja`n Ding.“








Donnerstag, 10. Februar 2011

Eisenherzchen

Eisenherzchen

Deine Oma ist doch nicht ganz von dieser Welt“; sagte Papa, wann immer von seiner Mutter die Rede war.
Deutlicher wurde er nicht, das hätte nicht zu seinem kultivierten Selbstbild gepasst.
Papa hatte fünfzig Paar Schuhe im Schrank, ließ sich sein Rasierwasser aus Finnland schicken und hatte einen Französischkurs besucht. Nur um im Restaurant angemessen bestellen zu können.

Oma war wie eine Butterblume an der Autobahn, wie eine Silberdistel mit sehr weichen Stacheln, und wie eine Laterne im Sturm, die kein Wind der Welt je ausblasen konnte.
Ich besuchte sie jeden Samstag von zwei bis fünf, wenn Papa mit seinem Auto in der Waschanlage war.
Den Stern auf Hochglanz bringen“, wie er sagte.
An solchen Samstagen waren wir „Mädels“ dann ganz unter uns.
Auch wenn ich erst knapp dreizehn, und Oma schon zweiundsiebzig war.
Papa ließ mich vor ihrem Gartentor aussteigen, und holte mich da auch wieder ab. Er kam nie mit rein.
Oma stand immer schon in der Tür - wie ein runder Felsen mit einer blauen Kittelschürze.
Hallo Anni“, sagte sie dann, und drückte mich an ihren Busen. Sie roch nach Zimt und reifen Äpfeln.
Manchmal gab es bei Oma Kekse und manchmal Topfkuchen.
An diesem Samstag hatte sie Waffeln für uns gebacken, und dazu gab es natürlich Tee mit Sahnewölkchen.
Mein Ostfriesentee“, sagte sie, „war das einzige, was ich damals an der Riviera wirklich vermisst habe.“
Wir hatten alte Fotos angesehen und dabei eine Postkarte mit einem Strand-Motiv entdeckt.
Hiwiera?“Ich hatte den Mund voller Waffeln und der Puderzucker staubte über den Küchentisch.
Ja, „Riviera“, das ist in der Toscana, in Italien. Als Opa noch lebte, waren wir da oft im Urlaub. In Bella Italia.“
Wie ist es in in Italien?“
Oma sah einen Moment lang in die Ferne, dann klaubte sie einige Krümel von ihrer Bluse, strich ihre Schürze glatt und erhob sich. „Erklären kann man das schlecht“, sagte sie,“aber ich kann es dir zeigen. Einen Moment.“
Sie stieg die Kellertreppe hinab und kam einige Minuten später mit allerlei Gerätschaften zurück.
Zuerst“, sagte sie,“ brauchen wir mal ganz viel Sonne. Mach mal die Augen zu.“
Oma stellte eine Höhensonne vor mich hin und schaltete sie ein. Es wurde sehr hell, und unglaublich warm auf meiner Haut. „Dann brauchen wir auf jeden Fall Wind. Wind gibt es da nämlich immer.“ Sie ging um den Tisch herum und platzierte einen Ventilator hinter der Lampe, und die Brise kühlte mein Gesicht.
So, jetzt halt mal diese Muschel an dein Ohr, da ist das Meeresrauschen drin.“
Sie hatte recht, es rauschte, und ich glaubte sogar das Geschrei der Möwen hören zu können.
Oma füllte warmes Wasser in eine Schüssel, dann zog sie mir Schuhe und Strümpfe aus. „Und nun die Füße in den Ozean, aber pass auf, dass dich nicht die Krebse beißen.“
Ich zog erschrocken die Knie an.
War ein Scherz, mein Schatz. Fehlt noch was? Oh ja, du brauchst unbedingt noch Sonnencreme und etwas Salz auf den Lippen. So, fertig. Jetzt bist du in Sestri Levante.“
Ich lächelte, es war wirklich so, als wäre ich ganz woanders.
Ein warmer Lufthauch strich durch mein Haar und meine Füße plantschten in den Weiten des Atlantik.
Das Meeresrauschen, der Geruch der Sonnenmilch und der salzige Geschmack auf meiner Zunge. Es war perfekt.
Oma, siehst du auch die großen Schiffe da am Horizont?“
Sie schloss die Augen: „Oh ja, die sehe ich.“
Und da rechts, die Kinder, die in den Wellen herumtoben?“
Ja, die auch.“
Und auch die flachen Häuser, die wie Lego Steine aussehen?“ „Ja.“

Am 12. September, es muss am frühen Morgen gewesen sein, kam der Schlaganfall. Er nahm ihre Freiheit, er nahm ihre Sprache und ließ nur ein schräges Lächeln übrig.
Am schlimmsten für mich war der beständige Strom von Tränen, der nicht aufhören wollte.
Eine ganz normale Folge der Erkrankung, und kein Anzeichen von Traurigkeit“, hatte dieser verlogene Stationsarzt mir erklärt. Ich wusste es besser.
Oma blieb nicht lange in der Gefangenschaft der Bettpfannen und Katheter, das hätte nicht zu ihr gepasst.

Papa hatte recht mit seiner Behauptung, dass Oma nicht von dieser Welt gewesen war, und am 23. Januar machte sie sich auf den Weg.
Bei ihrer Beerdigung gefror mir der Schnupfen an der Backe und ich kann mich nicht erinnern, jemals an einem kälteren Ort gewesen zu sein, aber meine Tränen behielt ich für mich.
Die habe ich ihnen nicht gegönnt.

Papas Geschäfte gingen zu der Zeit nicht besonders gut, und so hatte er Omas „Bruchbude“ schneller verkauft, als die Blumen auf ihrem Grab verwelken konnten.
Sentimentalitäten muss man sich leisten können“, sagte er.

Gestern ging ich durch die Elektro- Abteilung von unserem Supermarkt, ich brauchte einen neuen Wecker,als ich es plötzlich sah. Ein Sonderverkauf von Höhensonnen und Ventilatoren.
Ich ging darauf zu, und ich konnte nicht anders, als ganz sanft mit dem Zeigefinger über ihren Rand zu streichen.
Sie verkauften hier keine Muscheln mit Meeresrauschen und es roch auch nicht nach Waffeln, aber trotzdem war auf einmal alles wieder da.
Oma?“; flüsterte ich.
Ja, mein Schatz.“
Siehst du die Eisbude da hinten?“
Ja.“
Oma?“
Ja.“
Kriege ich einen Euro?“





Dienstag, 8. Februar 2011

Hubert


Hubert

Hubert klingelte zweimal.
Er hatte Schlüssel zu ihrer Wohnung, aber er wollte niemanden erschrecken.
Keine Antwort. 
Auf dem Klingelschild fehlte ihr Name, aber das war egal. 
Hubert hatte schöne braune Brötchen geholt, so, wie Mama sie gern hatte.
Die Blassen sind für Leute, die keine Zähne mehr haben“, sagte sie immer. Mama hatte ihre Zähne seit fünfundachtzig Jahren. 
Fast vollständig - das hatte kaum jemand.

Hubert hatte von Anfang an nur Schrott im Mund gehabt, ein Erbteil seines Vaters. 
Mama hatte die Angst vor den Bomben der Amis erlebt und Hubert den Bohrer von Dr. med. dent. Erlenhaus.
Die Lampe hatte seine Augen geblendet. Der Bohrer wurde von einem Riemen angetrieben, langsam, sehr langsam. Man konnte die Umdrehungen beinahe mitzählen. 
Durch die gelblichen Gardinen sah man auf den Bahndamm, aber das war egal, denn die Spannung galt dem Nerv, den Dr. Erlenhaus jeden Moment treffen würde.
Die Bomben der Amis trafen durch Zufall. Der Bohrer war präzise, auch wenn der Doktor nicht mehr gut sah und zitterte. 
Er traf ihn, er traf ihn jedes Mal. Erlenhaus war ein guter Zahnarzt. „Purzellin“, stand auf einem Plastikspender, der auf einem Tischen stand und an den Hubert sich selbst nach vierzig Jahren noch gut erinnern konnte.
Es gibt Human Mediziner und es gibt Zahnärzte,“ hatte Papa einmal gesagt, nachdem er wieder lächeln konnte. 
Man hatte ihm die Parodontose mit einem glühenden Draht weg gebrannt und er hatte seinen Mund an diesem Tag lange mit kaltem Doppelkorn spülen müssen, bevor er endlich schlafen konnte. Dentist Bärmann, (nicht einmal ein Dr.), ein Mensch mit Unterarmen wie ein Pferdeschlächter und mit einem Gemüt,dem dieser Vergleich nichts ausgemacht hätte, hatte ihm diese Kur verpasst. 
„Mach` jetzt das verdammte Maul auf!“ hatte er Hubert einmal angebrüllt. Sie wechselten daraufhin zu Dr. Erlenhaus. „Der ist nett und vorsichtig,“ hatte Mama gesagt.
Papa wechselte nicht. 
Ihm hatten die Russen im Krieg den halben Arsch weg geschossen. Papa konnte eine Menge aushalten.
Von Omas Tod einmal abgesehen, aber das war erst viel später.         Bärmann hatte mit seinem „Fleischerladen“ gutes Geld verdient. 
Er war einer der wenigen, die sich schon damals eine neue Frau, ein rot-weißes Ledersofa und einen Farbfernseher leisten konnten. Huberts Eltern hatten einen Laden für Radios und Fernseher, aber ein eigenes Gerät hatten sie nicht.
Dentist Bärmann war ein guter Kunde, und wem man einen teuren Fernseher verkauft hatte, dem konnte man wahrscheinlich demnächst auch eine neue Musiktruhe liefern. 
Papa hatte Familie und ihm waren die Spielregeln bekannt.

Man hatte ihn mit siebzehn eingezogen. Ein hübscher Junge, Hubert hatte ein Foto von ihm gesehen. 
„Hübsches Menschenmaterial“ für einen kurzbeinigen Österreicher, der mit seinen bekloppten und verkrüppelten Kumpanen eine arische Weltherrschaft angestrebt hatte.
Ein Granatsplitter? Ein Schrapnell? Keine Ahnung!
Papa war in einem italienischen Lazarett aufgewacht und es dauerte lange, bis ihn eine Schwester überreden konnte etwas zu essen und ein bisschen italienisch zu lernen. 
Seine Liebe zu „Bella Italia“ sollte bis ans Ende seiner Tage reichen.
Sein Bruder Heinrich hatte weniger Glück. Er verbrannte in einem Schützenpanzer vor Stalingrad. 
Die Behörden führten ihn als „vermisst“. Das klang besser.

Mama saß immer auf einem Stuhl an der Wand des Behandlungszimmers, hinter Hubert. Sie drückte ihm die Daumen. Dahinten, am Ende der Welt, wo man selbst keine Löcher in den Zähnen hat, tut man das, auch wenn man nicht weiß warum.
Wenn ich als Kind mal nachmittags lange Weile hatte,“ erzählte Mama oft, „ dann bin ich freiwillig zum Zahnarzt gegangen. Der hat dann gefragt, ob mir was wehtut, aber mir tat nie was weh. Ich hatte keine Löcher, oder so was. Der hat mir dann ein paar Bonbons geschenkt und ich bin nach hause gehüpft. Und wenn meine Mama, die Oma, mich dann gefragt hat, wo ich gewesen bin, hab` ich 
gesagt : „Bei Dr. von Gahlen.“ 
Mama erzählte diese Geschichte oft.
Mama war nicht Bösartig - nur mit Erfahrungslosigkeit gesegnet.
Es gab andere Dinge, die sie schlimm erwischen sollten.
Huberts Zähne erwischte es zum ersten mal in Omas Bett.
Er war fünf und gerade aus dem Winterurlaub mit seinem Vater zurück, und sie machten Zwischenstation bei den Großeltern.
An diesem Morgen hatte Oma nach dem Aufstehen die Fenster weit geöffnet und dann die Federbetten zum lüften über das Fußende des Bettes geworfen. 
Hubert mochte Omas Bett, weil es quietschte und knarrte, wenn man darauf herum sprang. 
Oma mochte „frische Luft“ und „gute Seife“, wie sie sagte. 
Sie sagte auch „gute Butter“, und „Bohnenkaffee“, wenn sie von ganz normalem Kaffee sprach.
Oma hatte etwas gegen Filtertüten. Sie brühte das Kaffeepulver lieber nach guter alter Sitte,der ganze Hausflur duftete danach und gab ihr recht.
Hubert gefielen die Federbetten über dem Fußende. Es wäre bestimmt so, als ob man auf einer Wolke landete. Man musste nur genügend Schwung holen, die Arme ausbreiten und lächeln. Die Betten hatte ein Tischler namens Koschinski aus massiver Eiche gebaut.
Auf seinem Einschulungsfoto sieht man Hubert, und man sieht seine Milchzähne. Alle schwarz. Wäre er berühmt geworden, man hätte das Fußteil mit dem Zahnabdruck bestimmt ausgestellt.
Er lebte mit seinen schwarzen Zähnen. Die würden bald ausfallen, und platz machen für die Neuen. 
Die anderen Kinder waren neidisch, sie glaubten, es käme von all den Süßigkeiten, die er immer essen durfte. 
Hubert erzählte niemandem die wahre Geschichte, warum auch? 
Die hässlichen kleinen Dinger fielen tatsächlich bald aus. 
Hubert warf sie weg. Es gab niemanden, der sie hätte aufbewahren wollen. Nicht einmal die Zahnfee.

Jemand tippte Hubert auf die Schulter.
Herr Lehmann? Gut, das ich Sie treffe, ich brauche den Schlüssel." Hausmeister Krüsel war ein freunlicher Mensch. "Herr Lehmann, sie wissen, dass wir die Wohnung ihrer Mutter geräumt haben? Das wissen sie doch...“ Er drehte Hubert vorsichtig an der Schulter zu sich herum.
Herr Lehmann, können sie mich verstehen? Ihre Mutter ist vor drei Monaten verstorben, das wissen sie doch, ...? Ich brauche den Wohnungsschlüssel. Herr Lehmann...?“
Hubert sah ihn an.
"Mögen Sie braune Brötchen?"





Montag, 7. Februar 2011

Keine Post aus Portugal


Keine Post aus Portugal

Nur vierhundert vierundneunzig Euro pro Person. Eine Woche mit Halbpension.“ Dem Mann vom Reisebüro fehlte ein Schneidezahn. „Ein idyllisches Fleckchen, sag ich Ihnen, direkt am Meer,mit Ursprünglichkeit und Meeresrauschen.“
Ulla wäre Lissabon lieber gewesen. Wegen der Kultur.
Ich brauchte Ruhe und Entspannung mit Möwengeschrei.
Wir einigten uns schließlich auf Albufeira an der Algarve. Ein Kompromiss.
Kein verschlafenes Kaff, wie ich es gern gehabt hätte, aber auch keine Großstadt mit „Kultur“. Ich würde die Tage in einem Strand Cafe` verbringen. Ulla könnte shoppen gehen und unser Geld für tausend Dinge ausgeben, die uns gerade noch gefehlt hatten.
Der Flug verlief angenehm.
Unser Hotelzimmer hatte kaum Kakerlaken, das Frühstück war gut für die Figur, und der Weg bis zum Hafen war, für eine sportliche Katze, kaum der Rede wert.
Ich fand ein Plätzchen unter einer sonnen-gelben Markise, die zu einem typischen Cafe` gehörte.Von hier hatte man einen großartigen Blick auf den blendend weißen Strand, die mannshohen Wellen und die salzverkrusteten Oberteile der Senoritas.
Ulla erkundete inzwischen mit großem „OH!“ und „AH!“ die anderen Sehenswürdigkeiten.
Ich trank mehr Kaffee als meinem Magen gut tat, las ein wenig und genoss ansonsten den weiten Blick über das Meer zu meinen Füßen. Von Zeit zu Zeit kam Ulla vorbei. Vollgepackt mit Tüten und Taschen. Alles Sonderangebote, wie man ihr versichert hatte.
So gingen unsere Urlaubstage dahin, in schöner Eintracht - bis auf den Letzten.
Ich saß unter meiner friedlichen Markise und beobachtete eigentlich nichts besonderes, als Ulla verschwitzt neben mir auftauchte.
Sie atmete schwer.
Hallo Schatz, nimm doch mal die Füße von dem Stuhl, ich will die Tüten abstellen, Danke. Ich muss was trinken. Herr Ober? Eine Botiglia mit Agua, ja? Gracias Senor! Meine Güte, du glaubst ja nicht, was man hier laufen muss, um alles gesehen zu haben. Ich verdurste....Senor, machen sie doch mal etwas dawai mit meinem Wasser,....Dankeschön! Gracias, Senor, mille gracias.“
Ich legte meine Lektüre beiseite. Ulla trank gleich aus der Flasche. „Meine Zeit“ (sie machte ein Bäuerchen) „Wir hätten das Wichtigste beinahe vergessen.“
Ich zog eine Augenbraue hoch: „Das Wichtigste?“
Ja, natürlich. Heute ist unser letzter Tag und wir haben noch keine einzige Postkarte geschrieben.“
Tatsächlich?“
Ja, tatsächlich. Es ist mir eben eingefallen. Hier, sieh mal.“ Sie holte einen beachtlichen Packen Postkarten hervor. „Die müssen wir alle heute noch schreiben.“
Die alle?“
Ja, natürlich! Glaubst du etwa, ich fahre bis nach Portugal und schreibe keine Karte?“
Aber das sind doch bestimmt fünfzig Stück.“
Ach,du übertreibst, es sind sechsunddreißig. Und die werden wir jetzt an unsere lieben Daheimgebliebenen verschicken.“
Ich schüttelte den Kopf: „Nö!“
Was soll das heißen?“
Nö, soll heißen, dass ich keine Karten schreiben will.“
Du willst keine Karten schreiben?“
Nö!“
Du willst unseren Lieben nicht erzählen, wie Schön es hier war?“    „Nö!“
Ich habe es gewusst! Ich habe es wirklich gewusst. Der Herr fährt bis nach Portugal, nur um hier einen Kaffee nach dem anderen zu trinken und interessiert sich sonst für gar nichts . Nicht für Land und nicht für Leute. Und weigert sich dann auch noch eine läppische Postkarte nach hause zu schicken.“ Sie nahm einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Die Leute an den Nachbartischen sahen aufmerksam herüber.
Eine Karte wäre in Ordnung“, sagte ich, „aber nicht eine ganze Postwurfsendung von sechsunddreißig Stück.“
Eine würdest du schreiben?“
Ja, eine würde ich schreiben.“
O.K. also eine?“
Ja!“
Wie gut, dass ich das vorhergesehen habe.“ Sie legte eine Karte auf den Tisch. Das Foto zeigte unsere Bucht.
Die ist ja schwarz- weiß“, sagte ich. Ulla kramte in ihrer Tasche. „Genau, aber weil du ja der Künstler in unserer Familie bist, darum... habe ich dir... ein paar Buntstifte zum Kolorieren mitgebracht.“
Ich liebte eine Wahnsinnige!
Hier mein Schatz. Ich schreibe fünfunddreißig Ansichtskarten. Du schreibst nur eine. Handkoloriert, für Helmut und HelgaHerrmann.“   
„Für unsere Nachbarn?“
Ganz genau!“ Ulla zückte ihren Kuli, klemmte die Zunge zwischen die Zähne und beschrieb Karte um Karte. Der Kellner schleppte Kaffee und Wasser heran und ich bemühte mich nach Kräften.
Wir wurden etwa gleichzeitig fertig.
Ulla stopfte ihre Karten in eine Einkaufstüte. „Dann lass mal sehen, was mein Künstlergatte zustande gebracht hat.“
Ich zeigte es ihr, und sie war überrascht.
Was soll das denn sein“
Was meinst du?“
Warum haben die Badegäste alle rote Hintern?“
Sonnenbrand.“
Und was ist das Schwarze hier?“
Rauch.“
Rauch?“
Ja, die Pommesbude brennt.“
Und warum hat das Haus da oben rote Fenster?“
Das ist der Puff, falls Helmut mal herkommen sollte.“
Und was ist da im Wasser?“
Haifischflossen, sieht man doch.“
Warum?“
Damit seine Frau zuhause bleibt.“
Und der schöne Strand, was soll das Schwarze denn sein?“
Ölpest“.
Und die zwei Eier mit dem Stiel in der Mitte?“
Atomkraftwerk“.
Ulla seufzte und schüttelte den Kopf. Sie nahm die Karte, zerriss sie, und Hundert kleine Schnipsel regneten auf meinen Kopf.
Armer Helmut, dachte ich. 
Ich hätte dir wirklich gern geschrieben, wie schön es an der Algarve ist.


 

Pretty Potato

Pretty potato
Es war Donnerstag in Nürnberg.
Anderswo war es natürlich auch Donnerstag, aber hier, auf dem Platz vor dem Rathaus, wurde der älteste Wochenmarkt Deutschlands abgehalten. Das war das Besondere.
Jede Woche, jeden Donnerstag, seit mehr als tausend Jahren.
Könige waren gekrönt und enthauptet worden, man hatte Päpste gewählt und zu Teufel gewünscht, Hexen verbrannt und Kriege jeder Art geführt.
Der Markt interessierte sich nicht dafür. Er öffnete um sieben und schloss um zwei. Das war Tradition und daran änderte sich nichts.

Die Gesichter der Händler waren vom Wetter zerfurcht, und ihre Stimmen waren ebenso rauh wie ihre Hände.
Sie priesen ihre Waren an, das Kleingeld klimperte, die Würstchen zischten auf dem Rost und das Federvieh hatte dunkle Vorahnungen.
Im Schatten, unter Hubers Obst - und Gemüsestand lag eine leicht verschrumpelte Kartoffel.
Sie hieß Cilena und war am Morgen vom Tisch gefallen.
Cilena genoß die Kühle und den Frieden. Hier würde sie niemand behelligen. Keine Menschenhände würden sie heute befingern und dann als „zu alt“ zurück legen. Heute nicht.
Nein, heute war ein guter Tag, davon war sie überzeugt.

Pluto, ein reinrassiger Retrievermischling aus gutem Hause, hatte sein betrunkenes Herrchen im Biergarten sitzen gelassen und schnüffelte auf verschlungenen Pfaden allein durch das Gewimmel.
Ja, nichts roch so gut, wie ein Markttag im Sommer.
Vor allem unter und hinter den Ständen,da wo man nicht hin durfte. Bleiche Fischköpfe mit glasigen Augen gab es da, geronnenes Schweineblut und manchmal sogar eine grüne Leberwurst mit leichtem Schimmelpilz.
Plutos Nase konnte sich keinen anderen Himmel vorstellen.

Cilena hing ihren Gedanken nach.
Ach, es gab so vieles, worüber man als Kartoffel in mittleren Jahren nachsinnen musste.
Es waren nicht Themen wie Falten oder Altersflecken, die sie beschäftigten. Oh nein, es waren die großen Fragen um die es ging.
Wie konnte man dem Hunger auf der Welt begegnen, ohne die Kartoffeln zu benachteiligen?
Wie konnte man den ewigen Konflikt mit den Menschen beilegen, die sich doch immer neue Gemeinheiten gegen ihr Volk ausdachten?
Wie konnte man so schaurige Begriffe wie: BRAT-Kartoffeln, Pommes FRITES ( eine französische Form der Barbarei), PELL-Kartoffeln oder Kartoffel-BREI ein für alle mal aus dem Wortschatz der Welt verbannen? Die Erinnerung an das Schicksal ihrer mehlig - kochenden Verwandtschaft jagte ihr gerade kalte Schauer über den Rücken, als sie sich einer feuchten Hundeschnauze gegenüber sah.
Ein Monstrum, ein Kartoffelfresser! Es hatte sie entdeckt.
Die schwarze Nase glänzte, schnüffelte und schnaubte, dass es Cilena durch durch Keim und Pelle ging.
Sie sah die Leberwurstreste zwischen seinen Reißzähnen, sah seine Zunge die lüstern aus dem Maul baumelte und roch seinen fauligen Atem.
Unter ihrer bescheidenen Schale war sie noch immer eine köstliche Knolle, und dieses Ding würde sie verschlingen, ganz bestimmt.
Die Welt wurde blendend hell, und Celina wurde ohnmächtig.

Pluto legte den Kopf schief und fragte sich, was er da denn wohl gefunden hatte. Gut riechen tat es jedenfalls nicht. Ein Ball vielleicht? Pluto war kein großer Denker, also stupste er seine Entdeckung probehalber mit der Nase an.
Diese Berührung kam einem Küsschen gleich und augenblicklich
machte es „FUMP!“
Ein Geräusch,wie das Platzen einer kolossalen Kaugummi Blase.
Der Obststand wurde in die Höhe gestemmt. Kisten polterten zu Boden, das Gestänge der Überdachung knickte ein und eine Welle von Südfrüchten brandete den Marktbesuchern entgegen.
Den Huberbauern, dem der Stand gehörte, haute es von den Füßen und er krachte rücklings in die Wassermelonen.
Aus den Trümmern erhob sich eine Gestalt.
Sie trug ein Dirndl so rot, wie ein Feuerwehrauto und die Reste einer Pampelmuse klebten in ihrem Haar.
Plutos Kuss hatte Cilena zurück verwandelt in das,was sie eigentlich war: Eine gut erhaltene Bäuerin von knapp fünfundfünfzig Jahren.
Ja, mi leckts am...“ entfuhr es dem Huberbauern. Er hatte sein Lebtag noch keine Erscheinung gehabt, aber dies war ganz bestimmt eine, das war sicher. Von einer höheren Macht hervorgerufen. Vom lieben Gott, oder vielleicht sogar vom Bayerischen Rundfunk.
Alois Huber lag in seinen Wassermelonen, bekam eine feuchte Hose und den Mund nicht wieder zu. So etwas Schönes wie Celina hatte er zuletzt im Kino gesehen.
Amors Pfeil steckte tief in Alois Stirn und es war ihm egal, dass die Liebe angeblich blind machen sollte.
Hauptsache der Rest funktionierte.

Sie wurden natürlich ein Paar, der Alois und die Celina, und so heirateten sie schon bald im Rathaus zu Nürnberg.
Pluto bekam zur Belohnung so viele Weißwürste und so viel Starkbier, dass er auf die Marmortreppen kotzte.
Alois und Cilena wurden glücklich miteinander, und nur manchmal verdunkelte eine kleine Wolke den Himmel über Cilenas Seligkeit.
Alois war ein großartiger Bursche und ein diensteifriger Liebhaber, aber der Pluto, der küsste eindeutig besser.

Samstag, 5. Februar 2011

Nenn' mich einfach "Dolly"

Kühlenkirchen ist nichts besonderes. Nur ein paar niedrige Häuser, die sich direkt an der Bundestrasse 41 aufgereiht haben. Einen Ortskern gibt es nicht, nur eine scharfe Rechtskurve an deren Scheitelpunkt die alte Backsteinkirche steht. Ein wenig besuchtes Gemäuer mit harten Bänken.
Zur Rechten der Kirche befindet sich das Gasthaus „Zum sanften Reh“, eine Örtlichkeit mit ähnlich harten Sitzgelegenheiten, aber einer deutlich größeren Auswahl an alkoholischen Getränken.
Auf der linken Seite des Kirchplatzes die Schlachterei von Erwin Fröhlich, einem Mann, der sein Hobby zum Beruf gemacht hatte und die Bäckerei Kampmann, die aber nichts zur Sache tut.
Hier in Kühlenkirchen lebte Bauer Johann Jensen.
Er war fast fünfzig und sein Hof brachte ihm jedes Jahr weniger ein als im Jahr zuvor. Eines Abends traf Johann den Schlachter Fröhlich in der Dorfschänke und klagte ihm sein Leid.
Du solltest etwas anderes machen,“ sagte Fröhlich.
Was meinst du?“
Ich meine, du solltest Schweine züchten. Das hat Zukunft.
Viele süße kleine Ferkelchen, und ich kaufe dir die dann ab.“
Ich hab` überhaupt keine Ahnung von Schweinezucht.“
Das macht nichts, die Schweine wissen, was sie zu tun haben. Erstmal kaufst du dir einen kräftigen Eber und eine hübsche junge Sau. Du wirst sehen, das ist alles keine Zauberei.“
Jensen hatte wenige Alternativen. Er verkaufte seinen Traktor, verpachtete fast alle seiner Felder und schaffte sich Romeo und Klementine an.
Romeo, ein Eber von knapp sechs Zentnern, hatte mit seiner unglaublichen Potenz schon in ganz Schleswig Holstein für Spanferkel - Nachschub gesorgt. Klementine war noch nicht so lange im Geschäft, aber nach Aussage ihres Züchters hatte sie ganz hervorragende Anlagen. Romeo fand Gefallen an seiner neuen Freundin, und wenn Jensen auf seiner Terrasse saß und dem wilden Quiken und Grunzen nebenan lauschte, dann hörte er auch das Knistern der Scheine, die ihn und seine Frau Martha demnächst nach Mallorca schicken würden.
Klementine wurde schwanger und ließ sich nicht lumpen. Sie brachte zehn rosige Ferkel zur Welt, die noch eine Weile gepäppelt wurden, bevor Meister Fröhlich sie mit einem Lächeln übernahm.
Er bezahlte einen guten Preis, und alle waren zufrieden.
Klementine nicht, aber wen interessieren schon die Gefühle eines Mutterschweins.
Siehst du, Martha“, sagte Jensen zu seiner Frau,“ deine Sorge war ganz unnötig. Wir sitzen hier fein auf der Veranda, die beiden da hinten haben ihren Spaß und das Geld kommt fast wie bei der Frührente.“
Klementine wurde noch drei mal trächtig, dann war plötzlich Schluss.
Romeo hatte jegliches Interesse an ihr verloren.
Er öffnete kaum noch ein Auge wenn sie an ihm vorbei tänzelte, da konnte sie machen was sie wollte – keine Reaktion.
Jensen war besorgt und ging in die Schänke um sich mit seinem Kumpel Erich zu beraten. Der Wirt war ein guter Zuhörer.
Der geht da einfach nicht mehr dran. Ich versteh` das nicht“, sagte Jensen.
Vielleicht ham sie sich ja auseinandergelebt, so was soll vorkommen.“
Das ist nich witzig, Erich.“
Nee, im ernst Johann, das kann doch bei die Schweine auch so sein.“
Was meinst du?“
Na, du weißt doch, wie das so ist,... und Schweine sind ja vielleicht auch nur Menschen.“
Du meinst, er findet sie nich mehr so richtig attraktiv?“
Genau.“
Und was soll ich da jetzt machen, Lippenstift? Kölnisch Wasser ?
Oder soll ich ihr die Borsten färben?“
Nee, aber vielleicht ein kleiner chirurgischer Eingriff...“
Wie?“
Na, denk doch mal nach. Dein Romeo ist doch auch`n Kerl und wo drauf stehen die Kerle?“
Jensen musste einen Moment überlegen. „Kohlrouladen?“
Nee, du Dussel. Hier,“ der Wirt griff sich mit beiden Händen an die Brust. „das meine ich: „dicke Dudeln“.
Ach du spinnst doch. Soll ich etwa bei Klementine `ne Brustvergrösserung machen lassen?“
Genau, mein Alter, genau das meine ich. Hier, trink noch einen.“
In dieser Nacht schlief Jensen noch schlechter als gewöhnlich. Ganz im Gegensatz zu Romeo. Der schnarchte zufrieden vor sich hin, und träumte von allerlei Dingen, von denen Klementine besser nichts erfuhr.
Drei Tage später hatte Jensen genug gegrübelt.
Er rief Dr. Steenhus, den Tierarzt, an. Der Doktor wollte sich tot lachen als er von Johanns Plänen erfuhr. Dann merkte er, dass es Jensen bitter Ernst mit der Sache war und er lenkte ein.
Jensen, ich verstehe ja, dass ihre Lage im Moment nicht ganz unproblematisch ist, aber...“
Unproblematisch, Herr Doktor? Mir steht das Wasser bis zum Hals! Und wenn sie mir nich weiter helfen, dann...“

Aber Jensen, immer mit der Ruhe, ich weiß wirklich nicht, was ich in dieser Situation für Sie tun könnte.“
Operieren, Herr Doktor. Das könn` Sie für mich tun.“
Wie bitte?“
Ja, Herr Doktor, Sie haben doch alle Möglichkeiten. Sie könnten diese Silikon Dinger besorgen, zwölf Stück müssten das sein - dann eine Narkose, ein paar kleine Schnitte. Sie nähen das ganze zu - und fertig.“
Jensen, so einfach, wie Sie sich das vorstellen, geht das aber...“
Doch, Herr Doktor, so einfach geht das. Ich will das ja auch alles bezahlen. Wenn die ersten Ferkel da sind, kriegen sie ihren Anteil.“
Der Doktor dachte eine Weile nach, und da es eigentlich kein großes Risiko gab, willigte er schließlich ein.
Die Implantate besorgte er über einen Kollegen und schon am folgenden Samstag fuhr er zu Jensens Hof.
Klementine wurde betäubt, gründlich gereinigt und Steenhus machte sich ans Werk. Romeo wurde auf die Weide geschickt.
Die Operation verlief bis zur siebten Zitze völlig problemlos. Bei der Achten aber ließ die Konzentration des Arztes für einen kurzen Moment nach und er erwischte eine Arterie. Das Blut schoss ihm entgegen, und Klementine verlor eine ganze Menge davon, bis Steenhus den Schaden wieder behoben hatte. Die zweite Komplikation war wesentlich schwerwiegender.
Ob es sich dabei um einen mutierten Keim, oder um ein unbekanntes Virus gehandelt hatte, konnte man später nur vermuten.
Dr. Steenhus vernähte alle Wunden mit großer Sorgfalt, dann ging er mit Johann ins Haus, um sich zu waschen und einen Kaffee zu trinken.
Das hat ja wunderbar hingehauen, was Herr Doktor?“
Ja, wenn man mal von dem kleinen Unfall absieht, schon. Klementine hat eine Menge Blut verloren, aber in ein bis zwei Tagen ist sie wieder einigermaßen auf dem Damm.“
Dann trinken wir mal`n kleinen Schnaps auf den Schreck, was Herr Doktor?“
Aber nur einen wirklich Kleinen, bitte.“
Martha setzte frischen Kaffee auf, und es gab Schinkenbrote mit sauren Gürkchen.
Zwei Stunden später rafften sich die Männer auf, um zu sehen, ob Klementines Narkose schon nachgelassen hätte.
Der Stall war leer.
Wo ist sie hin? Sie dürfte noch gar nicht aufstehen können.“ sagte der Doktor.
Also, ich hab`die Stalltür zu gemacht - denk ich wenigstens. Was war das denn? Ham Sie das auch gehört?“
Merkwürdige Geräusche, die an wütende Dampfmaschinen erinnerten drangen von der Wiese herüber.
Das klingt nach kämpfenden Schweinen Johann. Wenn sie zu Romeo auf die Weide gelaufen ist, und der das Blut riecht....Der bringt sie um! Los Jensen, kommen sie. Schnell!“
Johann griff sich eine von den Mistgabeln und beide stürmten aus dem Stall mitten durch Marthas gepflegte Rabatten zur Schweinewiese.
Das Tor war zwei Meter hoch und sie fanden es ordentlich verschlossen. Der Zaun aus Stacheldraht hatte die gleiche Höhe und konnte von keinem Tier durchbrochen werden. Dennoch war Klementine drin.
Der Anblick, der sich den Männern bot, hätte gut in eine römische Arena gepasst. Ein monströser grauer Körper rollte über das zerstampfte Gras und ein zweiter, wesentlich kleiner und hellhäutiger als der Erste, klebte vor seinem Bauch. Die Luft war erfüllt von aufgewirbeltem Staub der in den Augen brannte und von einem grunzenden Gebrüll, das zu keinem irdischen Tier gehören konnte.
Verdammt, Doktor, der wird sie zerquetschen wie nichts. Das werde ich mir nicht ansehen! Dat blöde Mistvieh!“
Johann machte Anstalten über den Zaun zu steigen, aber der Doktor hielt ihn fest. „Nein, Johann, nein. Bleib hier, du kannst nichts für sie tun. Er würde dich genauso umbringen. Du hast keine Chance gegen einen wütenden Eber der Blut gerochen hat. Bleib` hier, sage ich!“
Aber wir müssen ihr doch helfen. Doktor, sie ist verletzt. Ich muss ihn nur ablenken....“
Steenhus legte ihm den Arm um die Schulter.
Nein Johann, lass den Dingen ihren Lauf. Wir können nichts tun.“
Der Staub um die kämpfenden Körper war inzwischen so dicht geworden, dass man nicht mehr ausmachen konnte,was wirklich geschah. Das grunzende Geschrei wurde unerträglich.
Doktor, er wird sie fressen, verdammt, er bringt sie um und dann frisst er sie auf!“ Jensen versuchte sich los zu reißen.
Johann, wir können nichts tun!“
Vielleicht frisst er sie auch bevor...“
Johann!“ Die Worte des Doktors hallten plötzlich unnatürlich laut über den Platz. Es herrschte Stille in der Arena. Nur ein erschöpftes Stöhnen drang durch den Dunst der feinen Staubteilchen.

Romeo lag auf dem Rücken und Klementine hockte wie eine nackte Tigerin auf seiner Brust. Sie sah ihm in die Augen, gab einen Laut von sich der fast schon zärtlich klang, dann schlug sie ihre Fänge tief in seinen Hals. Der massige Körper des Ebers zuckte als ob ihn Krämpfe schüttelten, aber er gab keinen Laut von sich. Das einzige was die Männer hörten war eine Art zufriedenes Schnurren von Klementine, und ein schlürfendes Schmatzen, dass ihnen eine Gänsehaut über den Rücken zog.
Mein Gott, das kann nicht sein...so was gibt es nicht“, entfuhr es dem Doktor. Klementine hob den Kopf und sah zu ihnen herüber.
Ihr Kopf war mit Blut verschmiert, aber sie selbst schien nicht verletzt zu sein. Sie gab einen knurrenden Laut von sich, stieg von Romeos geschundenem Körper herunter und trabte auf das Gatter zu, hinter dem die Männer standen.
Ihr Gang war geschmeidig wie der einer Raubkatze.
Sie wirkte nicht nur gesund und unverletzt, sondern auch größer und kräftiger, als sie es noch vor wenigen Stunden gewesen war. Unter ihrer Haut spannten sich Muskeln und Sehnen, die mit einem normalen Schwein nichts mehr gemein hatten. Die Männer standen wie hypnotisiert hinter dem Tor. Sie fühlten sich hinter dem massiven Gatter einigermaßen sicher, denn Schweine können nicht springen, aber ihre Nackenhaare standen trotzdem senkrecht in die Höhe. Klementine war noch etwa fünf Meter entfernt, als das ganze Ausmaß ihrer Veränderung erkennbar wurde. Es war nicht nur die enorme Muskulatur, sondern auch ihr Gebiss, das sowohl oben, als auch in ihrem Unterkiefer Finger- lange Reißzähne zeigte. Ihre Augen hatten ein leuchtendes Orange angenommen, und ihre Pupillen waren senkrechte Schlitze, wie man sie von Reptilien kennt.
Jensen griff den Arm des Arztes. „Los Doktor, weg von hier. Schnell!“
Was ist das Johann? Was ist mit ihr passiert...“ Steenhus bewegte sich keinen Millimeter. „Komm, Doktor!“ Klementine zog den Kopf zwischen die Schultern und machte einen Buckel.
..aber, sie kann hier doch nicht...“ sagte der Arzt.
Die Sau schnaufte und der Sand vor ihrer Schnauze staubte zu allen Seiten.
Johann schnappte Steenhus am Kragen und zerrte ihn vorwärts. „Los! los! los! Doktor schnell!“
Klementine sprang.
Der Zaun hätte auch noch einen knappen Meter höher sein können, so mühelos glitt sie über das Hindernis hinweg.
Die stolpernden Männer hatten keine Chance, ihr zu entkommen.
Klementine landete nur wenige Meter hinter ihnen, dann rannte sie die beiden einfach über den Haufen und stürmte den Gartenweg entlang. Jensen und Steenhus hockten benommen im Dreck und versuchten zu verstehen was ihnen gerade passiert war.
Das war knapp“, sagte Jensen und rappelte sich hoch. Er versuchte den Doktor wieder auf die Beine zu bringen, aber der streckte nur den Arm aus und machte große Augen. „Da, Jensen, sie kommt zurück!“
Er hatte recht.
Klementine kam in gestrecktem Galopp den Weg entlang und hielt auf die beiden zu. Sie bremste in einer Staubwolke und fiel die letzten Meter in einen lässigen Trab. Jensen griff sich eine Mistgabel die am Stall lehnte und hielt sie ihr entgegen.
Hau ab du Höllenbrut. Hau ab sag ich!“ Jensen stieß mit seiner Forke in ihre Richtung. Klementine wich geschmeidig den eisernen Zinken aus, dann schnappte sie sich den Stiel mit den Zähnen, und brauchte nur einen kurzen Ruck, um Jensen die Waffe zu entreißen. Es knackte und krachte, als der Stiel unter dem Druck ihrer Kiefer zersplitterte. Jensen lehnte sich an die Wand des Schuppens und erwartete mit geschlossenen Augen ihren Angriff.
Klementine wandte sich dem Doktor zu, der wenige Meter weiter im Staub saß. Ihre Augen glühten ihm in einem dunklen Gelb entgegen, und ihre Lefzen troffen vor Erwartung, als sie ihre Reißzähne entblößte. Der Doktor versuchte rückwärts zu flüchten, verhedderte sich aber in Marthas Bohnenranken . Klementine kam näher. Mit einer merkwürdigen Anmut, die einem Model auf dem Laufsteg gut gestanden hätte, und einem Hüftschwung, den man aus einer Anderen Branche kennt. Näher, noch näher.
Steenhus hörte auf, an den Ranken zu zerren und ergab sich in dem Gedanken seines letzten Stündleins. Alle sterben irgendwann, es wird schon nicht so schlimm werden, dachte er.
Klementine stand über ihm, und zwei ihrer straffen neuen Zitzen baumelten direkt vor seiner Nase. Sie schienen tatsächlich völlig verheilt zu sein, und die Narben waren so gut wie unsichtbar.
Gute Arbeit - war der letzte Gedanke des Doktors bevor er ohnmächtig wurde.

Das wütende Orange wich aus Klementines Augen und verwandelte sich in ein leuchtendes Blau. Sie schürzte die Lippen über dem Gesicht des Ohnmächtigen und gab ihm einen dicken, nassen, Blutschleim durchzogenen Kuss auf sein linkes Auge.
Danke, kleiner Doktor, kannst Dolly zu mir sagen“; flüsterte sie mit einem zärtlichen Grunzen. Dann warf sie sich herum, knurrte dem bleichen Johann noch einen letzten Gruß entgegen, und jagte den Gartenweg entlang. Sie hatte noch eine Rechnung zu begleichen - mit einem lächelnden Fleischermeister.