Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Donnerstag, 26. Januar 2012

Dattelpalmen

Dattelpalmen

Es gibt große Bahnhöfe so wie in Bremen, es gibt sehr große wie in Hamburg und es gibt kleine und sehr kleine, wie unseren hier in Cuxhaven.
Alle sind verschieden, aber alle haben wenigstens eins gemeinsam, und ich mag es nicht. Es nervt mich, ja, ich hasse es sogar.
Was ich meine?
Diesen Spießrutenlauf am Sonntag Morgen, den meine ich.
Gleich nach einem mehr oder weniger erbaulichen Kirchgang, wenn man noch damit beschäftigt ist, das schlechte Gewissen los zu werden und nur mal in die Bahnhofsbuchhandlung will, um eine Zeitung zu besorgen. Sofort stellt sich einem einer von denen in den Weg.
Diese Schnorrer, diese „Haste-mal-n-Euro-Typen“.
Früher hätten die sich mit einer Mark zufrieden gegeben, aber die Preise sind auch in diesem Gewerbe drastisch gestiegen und selbst in unserem beschaulichen Nordsee Heilbad kommst du nicht ungeschoren davon.
Als ob es nicht genügt, dass uns die Touristen hier die Parkplätze wegnehmen und die Preise für Krabbenbrötchen in astronomische Höhen treiben.
Sicher, unserem Pastor würde dazu so etwas einfallen,wie:
 „Was Ihr aber meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt Ihr mir getan.“, oder „Wenn du aber gibst, so lass die Rechte nicht wissen, was die Linke tut.“ -  Na und? Sollen diese „geringen Brüder“ doch arbeiten gehen, wie alle anderen auch. Der hat immer gut reden, der Herr Pastor.
Außerdem dürfen meine Hände ruhig wissen, was sie tun.
Die Eine gibt dir nichts, und die Andere zeigt dir einen Vogel.
So sieht das aus.
Es ist doch nicht zum aushalten, so, wie am letzten Sonntag auch.
Es war stürmisch, es hat geregnet, und ich wollte nur eben schnell meine Welt am Sonntag kaufen, da kam auch schon sofort einer von diesen Burschen  angeschlendert. Genau das Kaliber, wie die doch alle sind. Wenn ich diese bescheuerten Baseball Käppis schon sehe, und diese Hosen, bei denen der halbe Hintern raus hängt...
Zu meiner Zeit hat man die Löcher in den Jeans selbst rein getragen und nicht von Dolce und Gabbana vorfertigen lassen.
Wir haben unsere Parkas beim Second Hand - Bundeswehrshop und nicht bei Sir Benny Miles gekauft. Und dann haben wir die Deutschland Flagge auf dem Ärmel durchgestrichen – aus Protest. Wir waren wenigstens noch politisch. Haben uns wegen unserer langen Haare beschimpfen lassen, den Kriegsdienst verweigert und die Taz abonniert. Hätten wir etwa damals solche Markenturnschuhe getragen -  mit Adidas auf Demo nach Brokdorf oder Gorleben? Niemals, keine Macht dem Establishment! Außerdem hätten uns die süßen Genossinnen damit doch  auch nie ran gelassen.  War ja auch so schon schwer genug.
Kannenweise Jasmintee musste man trinken und dann stundenlang den verständnisvollen Softie heucheln, der in feministischer Fachliteratur genauso beschlagen war, wie im kommunistischen Manifest. Räucherstäbchen, Patschuli und meterweise Hermann Hesse haben wir ertragen, nur um am Ende zu erfahren, dass sie gerade die Pille abgesetzt hatte, weil sie die Chemiebonzen nicht unterstützen wollte.Und wenn es ganz schlimm kam? Dann hatte die Maus gerade festgestellt, dass sie sich irgendwie doch eher zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte. Genau so war das - von wegen „gute alte Zeit“. Aber, wenn wir auch nur selten zu Schuss gekommen sind, wir hatten wenigstens Stil.
Haben wir etwa anständige Bürger belästigt, wenn wir Geld brauchten? Haben wir etwa gebettelt? Nein, natürlich nicht. 
Wir haben uns mit der Gitarre in die Fußgängerzone gestellt und „Blowing in the wind“ gespielt; da haben die Leute wenigstens noch was gekriegt für ihr Geld. 
Ich werfe dem Burschen einen kurzen Blick zu - ein gut aussehender Kerl eigentlich. Sein Papa war wohl ein schwarzer GI, der sich bei Zeiten wieder nach Louisiana verzogen hat – man kennt das ja.
Die haben uns damals immer die schärfsten Bräute weggeschnappt, die Besatzer, nur weil sie zollfreie Zigaretten mit Menthol besorgen konnten.
Die kamen doch tatsächlich im Tarnfarben – Kampfanzug in die Kneipe und machten auf dicke Hose. So als wären sie in Hanoi oder in Da Nang oder sonst wo.
Das war echt zum Kotzen, aber was konnte man als überzeugter Pazifist mit Untergewicht schon gegen diese gut trainierten Ledernacken ausrichten -  außer den Laden zu verlassen und ihnen von draußen ein freundliches „Ami go home!“ zurufen, und dann aber ab auf`s Damenrad und weg. Nur mein Freund Benni, möge er in Frieden ruhen, der hat wirklichen Widerstand geleistet, der hat es damals echt gebracht!
Nachdem der seine Freundin an einen von diesen Yankee Invasoren verloren hatte, setzte  er sich mit einem Transparent vor die Atlantic Bar, dem damaligen  „GI Headquarter“.
„Amis raus aus Elisabeth!“ hatte er darauf geschrieben. Der Mann hatte Schneid und später einen Schädelbasisbruch, der Benny, aber das ist alles Schnee von Gestern.
Der „haste-mal ´n- Euro- Boy“ kommt mit einem breiten Grinsen auf mich zu.
Ich werde hart bleiben und ihm nichts geben, da kann er sein Pepsodent Lächeln gleich wieder einpacken.
„He Mann, entschuldige mal...“, er hat den Gang eines Sportlers und ist einen guten Kopf größer als ich.
„Tut mir leid“, ich beschleunige meine Schritte.
„Wie?“
„Ich kann dir nichts geben.“ ich gehe noch ein wenig schneller.
„Aber nun warte doch mal...lauf` doch nicht gleich weg“, sagt er und geht längsseits.
„Ich laufe nicht weg, ich habe es eilig.“ ich gehe jetzt so schnell, dass man es gerade noch nicht „rennen“ nennen kann, denn das würde ihm so etwas wie „Angst“ signalisieren und Angst habe ich ja nicht.
Am Taxistand biege ich scharf rechts ein, aber er bleibt wie ein Beiwagen an meiner Seite und lässt sich nicht abschütteln.
„Ich wollte doch nur fragen...“ sagt er.
„Ich habe kein Geld für dich. Also lass mich in Ruhe.“
„Ich will doch gar kein Geld von dir....Ey, Vorsicht!“ Er weicht zur Seite aus, und ich trete in ein gut gefülltes Schlagloch. Mein rechter Fuß verschwindet bis zum Knöchel in der trüben Brühe  – na prima.
„So ein Mist“; sage ich, „ das ist Deine Schuld. Wegen Dir habe ich jetzt einen ´Nassen` hier.“
„Wegen mir? Ich hab sie doch sogar noch gewarnt.“
„Gewarnt? Du hast mich bedrängt, ja sogar geschubst hast du mich. Und das alles für einen läppischen Euro, den ich dir sowieso nicht gebe.“
Er baut sich vor mir auf, stemmt die Hände in die Hüften und legt den Kopf zur Seite. „Wie oft soll ich es noch sagen? Ich will kein Geld von dir.“
„So, und was willst du dann, meine Unschuld?“ ich ziehe meinen klatschnassen Fuß aus dem Schlammloch. Nagelneue Lloyd Schuhe!
„Dein Handy.“
„Mein Handy? Sind wir jetzt etwa schon bei „Raubüberfall“ gelandet, oder wie? Das ist ein Kapitalverbrechen, mein Freund, das solltest du dir gut überlegen.“
„Quatsch, Raubüberfall. Ich muss nur mal ganz dringend telefonieren, und wollte fragen, ob ich vielleicht mal ihr Handy benutzen darf – meins ist kaputt.“ Er kramt aus seiner Jackentasche eine Handvoll Plastikteile hervor : „Hier“, sagt er, „siehste, ist kaputt, geht nicht mehr.“
„Oh, ein I-Phone“, sage ich, „sowas kann ich mir nicht leisten.Was ist dem guten Stück denn widerfahren? Ein Unfall?“
Er steckt die Teile wieder zurück: „Ich war wütend, und da hab ich es an die Wand geschmissen.“
„Ach, und jetzt musst du ganz dringend mit meinem telefonieren?“
„Ja, mit meiner Braut“, er verzieht das Gesicht, „...dieser Schlampe.“ 
Ich hole mein Mobiltelefon hervor, nehme es vorsichtig aus dem Futteral und reiche es ihm. „O.K.“, sage ich, „aber wenn du damit abhaust, schicke ich dir die Bullen hinterher.“ Er nimmt mein gut erhaltenes Nokia 6310 in die Hand, betrachtet es von allen Seiten, dann schüttelt er den Kopf und wirft mir ein strahlend weißes Lächeln zu.
„Wirklich ein schönes Stück“, sagt er, „ aber ich klaue keine Antiquitäten. Ich bin auf Bewährung.“
Er wählt eine Nummer: „Ja, Hi... ich bin`s. Bin angekommen -  alles cool...das Wetter? Oh, jeden Tag über dreißig Grad und strahlend blauer Himmel, vom morgens bis abends -  und alles voller Palmen, sogar hier vor der Zelle...Wie? Nein, Telefonzelle, nicht Gefängniszelle ...Dattelpalmen oder sowas, keine Ahnung...ja, tatsächlich Baby, und morgen machen wir `ne amtliche Bootsfahrt bei Vollmond...Ja, da staunst du...O.K., Mädel, leg dich wieder hin...ich muss Schluss machen, da draußen steht jemand vor der  Tür und will auch mal ran...Ja, Du mich auch...Tschüss!“
Er drückt auf den roten Hörer und gibt mir das Telefon zurück.
„Dreißig Grad und Dattelpalmen?“ sage ich.
„Ist `ne lange Geschichte.“
„Klar, ist deine Privatangelegenheit. Geht mich nichts an...“
„Doch, kannste ruhig wissen, wenn du willst“ er vergräbt seine Hände  bis an die Ellenbogen in  den Hosentaschen, „ Das war meine Freundin, die Ala. Die hat mich vor ein paar Tagen angerufen, und erzählt, dass sie ganz aus Versehen mit `nem anderen Kerl rum gemacht hat. Es wäre wirklich nur ein `Unfall` gewesen, hat sie gemeint. Aber es würde sie jetzt doch sehr beschäftigen, und darum wollte sie mir das erzählen, und so weiter ...blabla. War natürlich auch noch mein bester Kumpel, der Ali. Klingt doch gut, oder? Ala und Ali ! Klingt doch gut, was meinst du.“
Ich zucke mit den Schultern.
„Ist ja auch egal, aber...was sollte ich machen? Ihr was an den Hals hauen, oder dem Ali, oder beiden? Wäre normal dran gewesen, ich musste doch mein Gesicht behalten, ich bin schließlich nicht irgend so ein Niemand in unserer Gegend. Aber ich hab ja noch Bewährung. Also hab ich gesagt: Hey Baby, da bin ich aber echt froh. Weil, ich hab im Hotel so eine reiche Tussi kennen gelernt, die ist voll auf mich abgefahren. Und jetzt will die mich mit in den Urlaub nehmen, auf `ne voll einsame Insel. Aber mit „all inclusive“, wenn du verstehst, was ich meine. Du kannst von mir aus ruhig weiter mit Ali „Bigboy“ rum vögeln, macht mir echt nichts aus. Ich hab jetzt was Besseres.“
„Im Hotel?“ sage ich.
„Ja, ich arbeite im Holiday Inn in Köln. Koffer schleppen und so was.“
„Und dann?“
„Na, dann habe ich erst mal vor Wut mein Handy geschrottet, und dann hab ich mich hierher auf den Weg gemacht. Ich muss ihr doch  `ne Karte von da schreiben. Sonst glaubt sie mir doch nicht.“
Wir standen im Nieselregen und ich war verwirrt.
„Aber, was machst du denn dann hier auf dem Cuxhavener Hauptbahnhof? Du hättest doch von Köln-Bonn das Flugzeug nehmen können.“
„Fliegen? Wieso denn fliegen? Da kommt man doch mit der Bahn hin.“
„Zu deiner Palmeninsel?“
„Klar.“
„Aha“, sage ich und verstehe kein Wort, „was hast du deiner Ala denn erzählt, wo es mit der reichen Lady hingehen soll?“
Er wirft mir einen selbstzufriedenen Blick zu, holt tief Luft und sagt:
„Spiekeroog, natürlich.“