Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Der Dümpel

Der Dümpel

Eduard Pedersen war ein zufriedener Mensch. Er hatte sich in seinem Leben eingerichtet. Nicht etwa, wie man sich bei einem schwedischen Möbelhaus einrichtet, nur für eine gewisse Zeit, um dann bald alles wieder neu zu machen.
Nein, seine „Einrichtung“ war von fester, bleibender Qualität. Stabil genug für ein ganzes Leben. Er hatte schon in jungen Jahren die höhere Beamtenlaufbahn beim Finanzamt eingeschlagen, sich eine Schweizer Armbanduhr und ein Jahresticket für den Bus gekauft. Der Pünktlichkeit wegen. 
Pedersen war mit sich und der Welt im Einklang – bis zum 6. November 2010, einem Donnerstag, um 17:45.
Er hatte den Bus wie jeden Abend nach Dienstschluss bestiegen, ein paar Belanglosigkeiten mit Wilhelm Koslowski, dem Fahrer, gewechselt und sich dann auf einen der hinteren Plätze nahe dem Ausgang gesetzt – nur für den Fall.
Er hatte mit geschlossenen Augen ein wenig vor sich hingedöst, als sich unerwartet jemand mit einiger Mühe auf den Sitzplatz neben ihm drängte. Es musste ein besonders beleibter Mensch sein. Aber es war kein Mensch.
Es war ein Riese.
Ein Riese, mit einem weißen Gewand, der, obwohl er sich unbequem zusammenkrümmte, immer noch mit dem Hinterkopf das Wagendach berührte. Er trug goldene Sandalen und stützte sich auf mächtiges Schwert, an dem bläuliche Flammen empor züngelten.
„Eduard, wir müssen reden“, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die eigentlich das Fensterglas hätte bersten lassen müssen. Nicht unerträglich laut, aber machtvoll wie Kirchenglocken mit Orgelpfeifen gemischt.
„Wir?", fragte Pedersen und sah sich um. Die anderen Fahrgäste schienen nichts gehört zu haben. Sie nahmen eigentlich überhaupt keine Notiz von dieser ungeheuerlichen Erscheinung.
„Ja Eduard, wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.“
„Aber worüber denn?“
„Über deinen Lebenswandel, mein Lieber.“
„Über meinen Lebenswandel? Aber damit ist doch alles in Ordnung. Ich kann mir nicht vorstellen, was es daran zu bemängeln gäbe.“
„Schon klar, dass du dir das nicht vorstellen kannst, mein kleiner, sauberer Finanzinspektor.“
Pedersen nahm Haltung an: „Wer oder was sind sie eigentlich, dass sie meinen, mich hier belästigen zu dürfen?“
Der Hüne sah ihn schräg von oben an: „Oh entschuldige, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Nathanael, und wenn du mich „Nati“ nennen solltest, haue ich dir eine rein. Was ich bin, willst du wissen? Oh, ich bin nur ein etwas zu groß geratener Staubsaugervertreter, der luftig weite Gewänder liebt und wegen seiner Schweißfüße mit goldenen Badelatschen herumläuft. Die Flügel auf meinem Rücken und das Flammenschwert sind eigentlich nur Staffage, da braucht man sich nichts weiter bei zu denken.“ Er legte Eduard seine rechte Klodeckelpranke aufs Knie:“ Alles klar?“ In den Glockenklang seiner Stimme hatte  sich ein leichtes Donnergrollen gemischt.
„Sie sind also tatsächlich ein ...", stotterte Pedersen. 
„Ein Engel, ganz genau. Ein richtig echter, naturbelassener Erzengel, um ganz genau zu sein. Du kannst mich ruhig duzen, aber wehe, wenn du mich Nati nennst.“
„Natürlich nicht“.
„Natürlich nicht, natürlich nicht!", donnerte Nathanael „ Mann, wie ich diese Duckmäuserei hasse.“
„Wie?“
„Du bist ein „Dümpel“, mein Freund. Ein echter, zahnloser Lauwarmdümpel.“
„Ich habe keine Ahnung, was sie meinen, aber ich bemühe mich stets ein ordentlicher ...“
„Dümpel zu sein?“
„Nein, ein ordentlicher Mensch zu sein“, sagte Pedersen. 
Die Flammen an Nathanaels Schwert loderten in einem wütenden dunkelrot: „Ein Mensch willst du sein, du Ahnungsloser? Nein, du bist eine Schande für das ganze Menschengeschlecht, ein Schlag ins Gesicht der Schöpfung!“
„Aber ich bin ein Mensch.“
„Du siehst vielleicht aus wie einer, aber du bist nicht menschlich. Der Mensch wurde als Mann und Frau erschaffen. Bist du eine Frau? Nein. Bist du ein Mann? Auch nicht.“ 
„Aber natürlich bin ich ein ...“
„Rede keinen Blödsinn! Der Mann ist ein Kämpfer, ein Krieger, ein Jäger. Einer dem nichts egal ist. Einer, der selbst für die Ehre seines Taubenzüchtervereins in den Krieg ziehen würde. Und vor allem, einer der die Weiber liebt.“ Der Engel hob eine Augenbraue: „Und, Eduard, bist du so einer?“
„Nein, aber die Corinna ...“
„Die Corinna hast du geliebt? Mensch Pedersen, das war in der Grundschule. Du hast ihr ein peinliches Gedicht geschrieben, sie hat sich darüber lustig gemacht und du bist heulend zu deiner Mutti gelaufen. Soviel zu deinen Weibergeschichten.“
„Ich bin eben für diese Dinge nicht gemacht.“
„Nicht gemacht?", donnerte Nathanael, „jetzt soll wohl noch ein Anderer für dein mickeriges Dasein verantwortlich sein, oder wie? Was du bist, hast du selbst erschaffen, und das ist Blasphemie; so was wird nicht geduldet.“
Der Engel hob sein grausames Schwert und hielt es vor sich: „ Damit ist jetzt Schluss.“
„Schluss?", rief Pedersen und hielt seine Arme vor das Gesicht, „was soll das heißen?“
„Das soll heißen, dass mein Schwert jetzt deinem bedauernswerten Dümpel-Dasein ein Ende bereiten wird. Erst werde ich deinen zarten Bürokratenhintern in hauchdünne, rauchende Scheiben schneiden und dann deine nutzlose Seele in die ewige Finsternis ...“
„Nein, bitte nicht!", flehte Pedersen, „ ich kann mich ändern. Ich kann ein richtiger Mann werden, ganz bestimmt. Wenn du mir dabei hilfst, dann kann ich das.“
Der Engel warf ihm einen verächtlichen Blick zu: „Ich soll dir helfen?“
„Ja bitte, nur ein bisschen. Du bist doch ein Engel, du kannst das. Nur ein kleiner Schubs in die richtige Richtung so zusagen.“
Nathanael kratzte sich am Kinn: „Einen kleinen Schubs in die richtige Richtung?“
„Ja, das wird völlig ausreichen.“
Der Engel atmete tief durch, dann drückte er seinen imposanten Daumen auf Pedersens Stirn und sagte: „ O.K. mein Freund, aber wehe, wenn du das hier vergeigst. Dann komme ich wieder.“
Für einen Moment wurde um Pedersen alles in blendendes Licht getaucht, und als er wieder sehen konnte, war der Engel verschwunden. Nur ein ganz leichter Schwefelgeruch lag noch in der Luft.

Was für einen verdammten Schwachsinn man doch so träumen kann, dachte Pedersen, als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Er stand mühsam auf, kratzt sich ausgiebig und schlurfte ins Badezimmer. Er klappte die Klobrille herunter und wollte sich gerade hinsetzen, als er eine leise Stimme hörte: „Ede, sei ein Mann.“ Pedersen drehte sich um, klappte die Brille wieder hoch und pinkelte im Stehen.
Ein Anfang war gemacht.

J.H.

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