Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Mittwoch, 22. August 2012

Robinson und Samstag

Robinson und Samstag

Der Kies knirscht unter meinen Schuhsohlen, es ist ein breiter Weg. Rechts und links sind Rhododendren gepflanzt.
Sie sind mindestens fünf Meter hoch und bestimmt hundert Jahre alt. Das sind nur vierzig Jahre mehr, als ich selbst bin – meine Güte. 
Ich kann Orte wie diesen nicht leiden, obwohl sie oft die lebendigsten und blühendsten Plätze in den Städten sind. Es gibt sie nur, weil es den Tod gibt, darum mag sie nicht. 
Sie sind niemals kühl, sondern immer kalt und zugig, selbst, wenn überall in der Stadt Hochsommer herrscht. Eine Merkwürdigkeit, aber irgendwie doch passend.
Am Ende des Weges hockt ein wuchtiger Klotz aus Backsteinen, der an einen Luftschutzbunker erinnert. 
Der Weg führt direkt auf die Freitreppe vor diesem Gebäude zu, und die Rhododendren machen ein Ausbrechen unmöglich; Fluchtwege gibt es nicht. 
Ein mageres Kreuz ist an der Stirnseite des Bunkers angebracht, aber es kann mich genauso wenig trösten, wie der verblichene Bibelvers darunter. 
Ich bin spät dran und die eisenbeschlagenen Türen haben sich wohl schon seit einigen Minuten hinter der Trauergesellschaft geschlossen. Ich will mich nicht hineinschleichen, sondern gehe lieber hinter das Gebäude, wo die öffentlichen Toiletten sind und die Leichenwagen stehen. 
Ich stecke mir eine Zigarette an.
Marlene, denke ich, Marlene Schimke.Geboren am 9. Oktober 1950 gestorben am 17.Juli 2010, so wird es wohl auf ihrem Stein zu lesen sein. 
Ich war siebzehn, als sie mit ihrem Vater in unsere Nachbarschaft zog. 
Er war Hauptschullehrer und hatte sich, nach der Trennung von Marlenes Mutter (der alten Schlangenhure, wie Marlene sie nannte), hierher versetzen lassen. Marlene kam am 26. September 1967 in unsere Klasse, nicht lange vor ihrem siebzehnten Geburtstag. Als ich sie das erste Mal sah, passierte etwas mit mir, das ich bis heute nicht erklären kann. Ich saß da, wie ein Depp mit offenem Mund, solange bis mein Kumpel Hannes neben mir mich in die Seite boxte und sagte: „Du wirst dir noch auf`s Hemd sabbern, Mensch.“ Ich riss mich zusammen, denn es war mir peinlich, so erwischt worden zu sein, aber wie ein Zauber oder Fluch hatte mich etwas ergriffen, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Neben Marlene wirkten die ganzen anderen „Hühner“ wie trockener Schiffszwieback. Auch wenn sie sich aufreizend kleideten, die Augen schwarz bemalten und in den Pausen mit ihren knallroten Mündern Zigaretten pafften. Ihr ganzes Gehabe versprach einfach nur Dinge, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten. Bei Marlene war es ganz anders. Sie kleidete sich unscheinbar, ja geradezu bieder, mit ihren Faltenröcken und den gestärkten Blusen. Sie trug auch nie die Haare offen, oder sogar toupiert wie all die anderen Gänse. Aber sie strahlte etwas aus, das mir sagte, sie würde alle Versprechen halten, die ich mir erträumte.
Sie saß drei Reihen vor mir und ich verbrachte meine Vormittage damit, in ihre Nackenhärchen zu träumen. Mein bester und einziger Freund Hannes zog mich oft damit auf. „Robinson, mein Alter, wenn du der Kleinen weiterhin so hinterher schielst, wirst du den Rest deiner Tage alles doppelt sehen. Das kriegt man nie wieder richtig.“ Wir kannten uns schon seit der vierten Klasse, und er nannte mich „Robinson“, weil ich schon immer einen Hang zur Einsiedelei hatte. Als ich ihn daraufhin „Freitag“ nennen wollte, wehrte er ab:„ Nee Robinson, ein „Freitag“ bin ich bestimmt nicht. Da ist doch nichts los. Ich bin auf jeden Fall ein „Samstag“. Der schläft immer lange aus, am Nachmittag laufen immer die besten Spiele und am Abend geht`s dann erst richtig los. Wenigstens, wenn wir etwas größer sind.“ So wurden wir Robinson und Samstag, die besten Kumpel, obwohl wir so unterschiedlich waren, wie Huhn und Hase. Ich, Robinson Erwin Eisenbach war in allen Fächern immer einer der Besten, von Sport und Werken einmal abgesehen. Ich las alles von Karl May und Jules Verne und bemalte Zinnsoldaten. Ich war mager und meine Haut war von aristokratischer Blässe, denn ich mied den Sonnenschein fast genauso sorgfältig, wie den Kontakt zu anderen Menschen. Meine Mutter und Hannes natürlich ausgenommen. Er, Hannes „Samstag“ Jäger war schon mit drei Jahren nur auf dem Hinterrad mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und so blieb es. Er wurde zum besten Sportler unserer Schule und der breitschultrige Schwarm aller Mädchen, was ihm allerdings nicht viel bedeutete. Wir waren wie Brüder, bis Marlene mich eines Tages fragte, ob ich ihr nicht Nachhilfe in höherer Mathematik geben würde …
Ich verscharre meine Zigarettenkippe im Kies und mache mich auf zu den Leichenwagen. Mal sehen, ob die wohl Radios eingebaut haben. Hinter mir höre ich Schritte, die sich nähern.
Erwin bist du das?", sagt eine Stimme, die ich ewig nicht gehört habe. Die Schritte sind jetzt ganz nah: "Erwin?“
Ein Schaudern läuft über meinen Rücken, ich drehe mich um: „ Ja, mein Name ist Erwin. Erwin Eisenbach.“
Vor mir steht ein alter Mann. Immer noch groß, aber sehr mager und faltig, mit grauen Stoppeln im Gesicht.
Seine Augen leuchten mich an, er hat einen Tropfen an der Nase, den er mit dem Ärmel wegwischt.
Erwin, he Robinson, weißt du nicht mehr, wer ich bin?“
Ich muss mich räuspern:„Nein, tut mir leid.“
Er macht einen Schritt auf mich zu und will nach meiner Schulter fassen: „Mensch Erwin ...“.
Ich weiche vor ihm zurück, und er greift ins Leere.
Ich bin`s Erwin, Hannes.“
Wer?“
Ich bin Hannes. Hannes „Samstag“ Jäger.“
Ich schüttele den Kopf: „ Nein, das ist nicht möglich. Mein Freund Hannes Samstag ist schon lange tot.“
Tot? So ein Quatsch! Erwin, ich bin`s wirklich. Dein alter Kumpel Samstag. Ich bin nicht tot, sieh mich doch mal an.“ „Halten sie den Mund! Ich brauche sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie ein Lügner sind. Mein Freund Hannes starb an einem Sommerabend im Jahre 1968.“
Woran ist er denn gestorben?“
Er küsste die Tochter einer Schlangenhure und starb daran.“ „Aber wo, Erwin, wo bin ich denn dann begraben, wenn ich wirklich tot sein sollte?“
Hier“, sage ich und deute auf meine Brust. Ich gehe an ihm vorbei, den Kiesweg entlang auf das große Eingangsportal zu.
Sollen doch die Toten ihre Toten begraben“, denke ich und wische mir einen Tropfen von der Nase.

J.H.

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