Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Samstag, 21. Juli 2012

Linie 451


Linie 451

„Sie heißen Johannes Diehsel?“
„Hannes Diehsel, nicht Johannes.“
„Gut Herr Diehsel, dann erzählen sie uns doch mal Ihre Sicht der Dinge.“
„Meine Sicht? Hier geht es um Prinzipien, um Tugenden, um Werte und nicht um „meine Sicht“. Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Treue, Fleiß, Korrektheit und Gehorsam. Und natürlich um die Größte unter ihnen, die „Königsdisziplin“.
„Die Größte?
„Die Pünktlichkeit, natürlich.“
„Die Pünktlichkeit?“
Aber sicher. Alle anderen Tugenden kann man erreichen, indem man die jeweilige Untugend einfach ablegt. Die Pünktlichkeit aber, die ist nur durch einen ständigen Kampf zu erlangen, denn wer sie will, der hat eine hinterhältige Gegenspielerin.“
Und wer oder was sollte das Ihrer Meinung nach sein?“
Das ist die Zeit. Die scheint ganz geradlinig und berechenbar zu sein, die läuft auch brav hinter einem her, wenn man ihr einen Schritt voraus ist, aber wehe, du bist unachtsam, dann überholt sie dich, lässt dich zurück und macht dich zum Gespött der Leute. Die ist eine falsche Schlange, die man beherrschen muss. Ich bin jetzt seit dreißig Jahren Busfahrer bei uns in Bocholt, auf Linie 451, ich weiß, wovon ich rede.“
Wann ist Ihnen dies das erste Mal derart deutlich geworden, Herr Diehsel?“
Wissen Sie, ich hatte da schon immer so einen Verdacht. Aber an meinem ersten Arbeitstag bei der BBV., ist bei mir endgültig der Groschen gefallen. Ich war neunzehn. Mutter hatte die Uniform gründlich ausgebürstet, das Hemd gebügelt und die Schuhe auf Hochglanz poliert. Ich war pünktlich aufgestanden und alles hätte gut gehen müssen, aber als ich meinen linken Schuh zubinden wollte, da riss der Senkel so unglücklich, dass er nicht mehr zu gebrauchen war. Ich war aufgeregt und brauchte geschlagene vier Minuten, bis das neue Schnürband endlich eingefädelt war, und ich die Schleife gebunden hatte. Ich bin aus dem Haus gestürmt, die Branderheide runter, aber wie sehr ich mich auch beeilt hab, auf meinem Weg kamen von überall immer noch ein paar Sekunden dazu. Dadurch kam ich mit sechseinhalb Minuten Verspätung auf dem Betriebshof an. Die Busse waren so in der Halle geparkt, dass sie nur der Reihe nach herausgefahren werden konnten. Meiner war der Erste, und weil ich nicht rechtzeitig war, hatten alle Linien an diesem Tag unglaubliche Acht! Minuten Verspätung. Da hab ich mir geschworen, dass so was bei mir nie wieder vorkommen würde.“
Und, haben Sie dieses Ziel erreicht?“
Das kann man wohl sagen. In den folgenden dreißig Jahren habe ich keine einzige Minute mehr verloren, keinen Tag wegen Krankheit gefehlt und, weil ich auch die Sorgfalt immer hochgehalten hab, hatte ich nie einen Unfall.“
Herr Diehsel, bitte erzählen Sie uns doch einmal kurz Ihren Tagesablauf.“
Daran ist nichts Besonderes. 5:00 aufstehen, dann in die Küche den Wasserkocher anstellen, ins Bad – 6 Minuten. 5:06 Kaffee aufgießen, Uniform anziehen 4 Minuten, Frühstück 8 Minuten. Um 5:20 die Frau zum Abschied auf beide Wangen küssen, verlasse das Haus, steige auf`s Fahrrad und erreiche nach 10 Minuten um 5:30 das Busdepot.“
Beachtlich, Herr Diehsel. Gilt dies alles auch für Ihre Freizeit?“
Aber sicher, das gilt für alles.“
Und Ihre Frau hat Sie darin immer unterstützt?“
Natasha? Oh, ganz am Anfang nicht, aber die hat sich schnell eines Besseren besonnen, das kann ich Ihnen sagen. Was hätte sie auch tun sollen, so ohne Papiere und ohne Geld? Zurück nach Kasachstan vielleicht?“
Herr Diehsel, kommen wir nun zum vergangenen Freitag, dem Tag Ihres Dienstjubiläums. War da auch alles so, wie immer?“
Nein, da war nichts, wie es sein sollte. Der Wecker hatte nicht geklingelt, es war 5:04, als ich aufgewacht bin.. Vier Minuten zu spät. Ich hab dann alles im Laufschritt erledigt. Hatte schon zwei Minuten wieder gut gemacht, als ich feststellte, dass mein Hemd falsch geknöpft war. Versuchte es erneut, aber die Knöpfe und die Knopflöcher passten einfach nicht mehr zusammen. 3 Minuten minus! Schlüpfte in die Hose, zog das Sakko über, und sah, dass beides völlig zerknittert war. Ich hab nach meiner Frau gerufen: „Natasha, was ist mit meiner Uniform passiert?“
Keine Ahnung, vielleicht hat Hund drauf geschlafen“, kam es zurück.
Der Hund? Was redest du da, wir haben keinen verdammten Hund. Und wo ist meine Krawatte, ... ich kann die nicht finden.“
Vielleicht hat Hund sie gefressen!“
Bist du völlig verblödet? Wir haben doch gar keinen ...“ Ich wollte meine Schuhe zu binden, aber die Schnürsenkel waren so sehr verknotet, dass ich sie unmöglich entwirren konnte.
Natasha, du dummes Weibsstück! Komm jetzt her und hilf mir. Ich komm zu spät!“
Aus der Küche kam nur ein unschuldiges Pfeifen.
Ich kann gerade nicht. Muss nachsehen, ob Hund gut geht, wegen hat gefressen deine Krawatte.“
Also, ich bin wirklich ein feiner Kerl, da können Sie fragen, wen Sie wollen. Ich bin nachsichtig und durch nichts so schnell aus der Ruhe zu bringen, aber das war zu viel.
6 Minuten minus! Ich hab die Schnürbänder mit meinem Taschenmesser zerschnitten, um überhaupt in meine Schuhe zu kommen.
Du bist heute spät dran“, hörte ich sie aus der Küche.
Ich bin zur Küchentür gehumpelt: „Das warst Du!“ hab ich gesagt,
Das alles bist Du gewesen! Aber warte, Mädchen, wir sprechen uns später.“
Keine Ahnung was meinst du.“
Ich werde dich umbringen, du ...“.
Sie stand am Herd in ihrem fadenscheinigen Morgenrock, drehte sich zu mir um und lachte mich aus. „Womit? Mit deine kleine Messerchen? Damit kannst du genauso wenig ausrichten, wie mit deinem kleinen … “
Sei still! Sonst tue ich es wirklich.“
Und wann? Wann wirst du es tun, Herr Busfahrer, wann wirst du mich umbringen?“
Heute Nachmittag, Punkt 14:55.“
Herr Diehsel, wann kamen Sie an diesem Tag nachhause?“
Um 14:42.“
Was taten Sie?“
Ich ließ meine Tasche im Hausflur stehen und ging sofort hinters Haus in den Werkzeugschuppen.“
Was wollten Sie da?“
Den Hammer holen.“
Den Hammer?“
Ja, ich hatte mich um 13:28 entschieden, dass ich sie mit dem 5-Kilo-Fäustel erledigen wollte. Zwei bis drei Schläge, dann den Leichnam beseitigen. Zur Sportschau wäre ich zurück gewesen.“
Es lief nicht alles nach Plan, oder?“
Nein. Hören Sie, meine Werkstatt, ist eine Augenweide für jeden, der die Ordnung liebt, aber meine Frau, die hatte ganze Arbeit geleistet.
Alle meine Maschinen und Handwerkszeuge, Kabel und Gartengeräte lagen da in einem wilden Durcheinander auf der Erde, und den Inhalt von sämtlichen Schubkästen hatte sie drüber ausgeschüttet. Es war 14:46. Nur noch neun Minuten! Ich hab gewühlt, ich hab gesucht, ich musste doch den Fäustel finden. Aber die Zeit rannte mir immer schneller und schneller davon, es hatte keinen Sinn. Ich bin also aus der Werkstatt gestolpert, ins Treppenhaus und die Stufen hoch, bis in unsere Etage.“
Warum?“
Ich wollte Natasha fragen, wo sie den Hammer gelassen hatte.“
Was geschah dann?“
Die Tür war nur angelehnt. Natasha stand am Ausguss und trocknete das Geschirr ab. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr, dann sah sie mich an und lächelte.“
Ist es richtig, Herr Diehsel, dass Sie Ihre Frau, nur wenige Augenblicke
später, mit dem Nudelholz erschlugen?“
Ja.“
Und jetzt, da Sie einige Zeit zum Nachdenken hatten, tut es Ihnen leid?
Wie?“
Tut es Ihnen Leid, Herr Diehsel?“
Ja.“
Sie bedauern also, dass Sie Ihre Frau umgebracht haben?“
Nein.“
Wie soll ich das verstehen?“
Es war 14:57, und es war nicht der Fäustel“.



J.H.






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