Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Sonntag, 8. September 2013

Ein kurzer Sommer mit Julia

Ein kurzer Sommer mit Julia

Ich habe mir eine Bank gesucht, am Wanderweg, vor einer schützenden Hecke.
Man hat von da aus einen schönen Blick aufs Meer, und man hat seine Ruhe.
Es ist selten viel los da.
Nur ein Fußweg und eine Wiese trennen mich vom Wasser.
Es ist schon elf Uhr am Vormittag, aber es ist diesig, und die Sonne kann sich nicht so recht durchsetzen.
Ein Hund kommt um die Ecke und rennt auf die Wiese.
Eine hässliche, schwarze Labrador Hündin mit langen, schlenkernden Zitzen.
Sie humpelt und macht komische Bewegungen beim Gehen.
Vielleicht hatte sie einen Unfall, oder sie ist schon so alt, dass der Schlaganfall sie erwischt hat.
Egal, Hauptsache, sie entdeckt mich nicht und sabbert mir auf die Hose.
Ich kann mir echt nicht vorstellen, wie man so eine unansehnliche Töle zuhause haben will.
Ein Mädchen betritt die Wiese, sie hat wohl eine Leine in der Hand, und noch etwas anderes, vielleicht ein Stöckchen, oder so.
Sie ist noch ziemlich weit weg, aber ich erkenne, dass ihre dunklen Locken fast bis zur Hüfte reichen.
Wohl das Frauchen von dieser humpeligen Hundedame.
Sie trägt eine kurze Hose mit langen Beinen drunter.
Ich schaue kaum hin, es interessiert mich nicht weiter – ich stehe mehr auf Blondinen.
Die Sonne verdrängt langsam den Hochnebel und der Himmel wird klar.
Leute mit komischen Hunden ähneln auch meistens ihrem Tier, da würden in diesem Fall auch die langen Beine nichts mehr retten.
„Quasimoda“ sollte ich den sabbernden Pelzhaufen nennen, frei nach dem buckligen Glöckner von Notre Dame.
Genau, und wie heißt wohl das Frauchen?
Nach der knappen Hose zu urteilen, wahrscheinlich Chantal oder Chanine, oder irgendwas, was sie selbst kaum buchstabieren kann.
Aus der Rubrik „ schwer geschminkt, und leicht zu haben“, haha.
Ein Spaziergänger kommt vorbei.
Er trägt einen braunen Anzug und dazu blaue! Joggingschuhe, verdammt.
Das Meer ist ruhig heute.
Ein Lotsenboot schiebt eine dicke Bugwelle vor sich her, lautlos, der Wind ist ablandig.
Das Mädchen wirft das Stöckchen, und die hinkende Hundedame versucht es zu fangen – ein jammervoller Anblick.
Ich muss mich verbessern, das Mädchen hat doch nicht so viel Ähnlichkeit mit ihrem geifernden Haustier, wie ich zuerst gedacht hatte.
Ihr Gesicht kann ich noch nicht erkennen, dafür ist sie zu weit weg, aber was ich von ihr sehen kann, könnte mir unter Umständen schon gefallen.
Nein, ich schüttele den Kopf und sehe lieber wieder aufs Meer hinaus.
So ein Mädel käme nicht infrage, auch wenn sie keine Familienähnlichkeit mit ihrer fusseligen Freundin hat.
Dann hat sie eben ein Herz für all die armen Vertreter der gefallenen Schöpfung, und bestimmt jede Menge einbeinige Karnickel, oder milieugeschädigte Wellensittiche zuhause – nein danke.
Allein, wie es bei ihr in der Wohnung wohl riecht?
Sie wirft das Stöckchen, und unter ihrem Top wippt es kaum nach.
Bestimmt alles voller Katzenhaare in der Bude, denke ich, und muss einen Niesreiz unterdrücken.
Die beiden sind näher herangekommen.
Das Mädchen trägt eine große Sonnenbrille – vielleicht schielt sie, oder ist ein Albino.
In Ihrem Fall müsste es dann wohl „Albina“ heißen.
„Quasimoda und Albina“, ich sollte eine Geschichte über die beiden schreiben, ein Jugendbuch, so wie Hanni und Nanni.
Der erste Band hieße dann wohl „Quasimoda und Albina gegen den fiesen Kammerjäger“.
Gibt es Albinos mit braunen Locken?
Es ist wirklich schade, dass ein hübsches Ding wie sie für mich nicht infrage kommt.
Nein, nicht bei diesem unsympathischen Anhang jedenfalls.
„Hallo, Du, da!" sie winkt in meine Richtung.
Sie wird jemand anderes meinen, ich sehe einer trägen Möwe hinterher.
„He!“ sie stapft durch das Gras direkt auf mich zu.
Sie trägt Gummistiefel zu ihrer kurzen Hose und wahrscheinlich keine Socken.
Davon kriegt man Stinkefüße, wie meine Mutter sagen würde.
„He, hast du eine Uhr dabei?“ ruft das Mädchen mit den Stinkefüßen.
Ich drehe mich zur Seite, aber da ist sonst niemand.
Eine Lachmöwe segelt über uns hinweg.
„Hast du eine Uhr?", ruft sie und nimmt ihre Sonnenbrille ab.
Mich trifft der Schlag, ich kenne sie!
Sie heißt Julia und ist erst kurz vor den Sommerferien an unsere Schule gewechselt, eine Klasse über mir.
Ich war bisher nie in ihre Nähe gekommen, aber es kursierten schon nach der ersten Woche allerlei Gerüchte über sie.
Die Mädchen zischten ihren Namen und die Jungen verdrehten sehnsuchtsvoll die Augen, wenn das Gespräch auf sie kam.
„Wer ich?", frage ich vorsichtig.
„Ja klar“, sie hebt die Arme, „siehst du hier sonst noch jemanden?“
Der unnütze Köter hat sich nun auch auf den Weg gemacht und schlenkert hinter ihr her.
Die beiden kommen immer näher.
„Ja, ich habe eine Uhr“.
„Und?", sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch.
„Was meinst du?“
„Wie spät es ist, meine ich“.
„Oh, gleich Viertel nach zwölf“.
„Danke, war doch gar nicht so schlimm, oder?“
Die Labrador-Lady scheint sich über meinen Anblick zu freuen, denn sie wedelt, was das Zeug hält, und setzt sich direkt auf meine Füße.
Das Mädchen schenkt mir ein blütenweißes Lächeln.
„Sieh mal, die alte Milli mag dich, du musst ein echter Tierfreund sein. Sie hat ein todsicheres Gespür dafür. Dürfen wir uns ein wenig zu dir setzen?“
„Oh ja, sicher", sage ich, „klar.".
„Wir sind ein wenig verschwitzt vom Spielen, ich hoffe das macht dir nichts aus“.
Sie setzt sich, und ich bemerke, dass sie von oben bis unten von winzig kleinen Schweißperlen bedeckt ist, die in der Sonne wie zarter Raureif auf ihrer gebräunten Haut funkeln. Ich müsste verrückt oder kastriert sein, wenn mich dieser Anblick stören würde.
„Du magst Hunde, oder?“
„Auf jeden Fall“, lüge ich, „aber nicht nur Hunde. Ich liebe alles, was zwei oder vier oder noch mehr Füße hat. Haha, oder auch Federn oder Krallen, ganz egal“.
Ich tätschele Milli den Kopf, und sie beginnt begeistert meine Hand abzuschlecken – widerlich.
„Das ist schön“, sagt das Mädchen, „ich bin übrigens Julia.".
„Ich weiß“, rutscht es mir heraus, „ich bin Thomas“.
„Du weißt, ... du kennst meinen Namen?“
„Äh ja, ich gehe auch auf die Heine-Schule. Die ist ja nicht so besonders groß, da weiß man ja schnell, wenn jemand Neues dazu gekommen ist.“
Julia dreht sich ein wenig weiter in meine Richtung und mustert mich von oben bis unten.
„Moment mal, du heißt Thomas, gehst in die Heine-Schule und du sitzt hier ganz alleine mit ein paar Schreibutensilien. Wie heißt du mit Nachnamen?“ sie klingt, als wäre sie ganz kurz davor, ein wichtiges Geheimnis zu lüften.
„Johnson“.
„Thomas Johnson?“
„Ja“.
„Ha, dann bist du der, den sie den „kleinen Hemingway“ nennen. Der, der für die anderen immer die Aufsätze schreibt.“
„Nun ...“ versuche ich zu entgegnen.
„Und du bist der, der mit einer seiner Geschichten, für unsere Schule letztens einen Preis gewonnen hat. Mann, das ist klasse.“
Sie scheint mit ihrer Kombinationsgabe sehr zufrieden.
„Na ja, ich schreibe eben ganz gerne, und manchmal kommt eben auch zufällig irgendwas Brauchbares dabei raus. Aber einen „kleinen Hemingway“ nennen mich nur die, die mich nicht besonders gut leiden können.“
„Ach was“, Julia schüttelt mit dem Kopf, „du sitzt hier mit deinem Schreibzeug, während die anderen in der Badeanstalt sind. So was machen nur echte Schriftsteller, glaub mir“.
Mein Fuß ist heiß von dem Hundehintern, der darauf sitzt, von meiner rechten Hand tropft der Sabber, und neben mir sitzt eine leicht verschwitzte Schönheit, die mich offensichtlich interessant findet. Ich muss unbedingt sofort aufwachen, das kann nur ein Traum sein, das gibt es nicht in der realen Welt!
Julia rückt näher heran und sie riecht wie eine Meeresbrise, die durch einen Orangenhain weht.
„Und, Thomas Johannson, was schreibst du da so die ganze Zeit?“
„Nichts Besonderes.“
„Ich meine, worüber hast du heute so geschrieben?“
„Über alles und nichts. Über alles, was so um mich herum passiert.“
„Um dich herum? Dann hast du auch über Milli und mich geschrieben? Ja? Los zeig mal“.
Sie greift nach meiner Kladde und reißt sie mir aus der Hand.
„Nein, warte!", rufe ich, aber es ist zu spät.
Julia hüpft wie ein Gummiball über die Wiese und freut sich über ihre Beute.
Dann beginnt sie zu lesen …



Die Kollegen fanden diese Zeilen, als sie das Zimmer von Thomas J. durchsuchten.
Es stellte sich heraus, dass er sie einen Tag vor seinem Verschwinden geschrieben hatte. Eine Woche später wurde sein aufgedunsener Leichnam unterhalb von Husum angespült. Wir konnten uns keinen rechten Reim auf den Zustand seiner sterblichen Überreste machen.
Seine rechte Hand wirkte wie abgebissen, ebenso seine Nase und seine Ohren.
Die Brust schien von scharfen Klauen zerfurcht, und wenn wir auch versuchten zu glauben, dass er Bekanntschaft mit einer Schiffsschraube gemacht hatte, so gab uns doch etwas ein gewaltiges Rätsel auf.
Seine Geschlechtsteile fehlten, obwohl er eine intakte Hose trug.
Die letzten Zweifel an einem tragischen Badeunfall wischte dann der Obduktionsbefund vom Tisch.
Der Tod war nicht durch diese Verletzungen, sondern durch einen Kugelschreiber eingetreten, den man ihm ins linke Auge gerammt hatte.
Es war sein Eigener.
Ich nahm Kontakt zu Julia H, dem Mädchen, von dem Thomas geschrieben hatte, auf.
Es war keine Vorladung, nur ein Gespräch.
Wir trafen uns an der gleichen Bank, auf der sie, nach der Beschreibung, mit dem Opfer gesessen haben musste. Ein kleiner psychologischer Vorteil meinerseits, wie ich hoffte.
Sie kam, und es war, als durchlebte ich genau die Zeilen, die der „kleine Hemingway“ geschrieben hatte.
Sie stapfte und hüpfte mit ihren Gummistiefeln durch das Knöchel hohe Gras, sie trug die gleichen, kurz abgeschnittenen Jeans, und ihre braunen Locken spielten um sie herum. Sogar der Hund war da. Ein altes Labrador Mädchen von wenigstens zwölf Jahren.
Julia setzt sich neben mich auf die Bank und schenkt mir ein blütenweißes Lächeln.
„Wir waren es nicht, Herr Kommissar. Wir haben ihm nichts getan“, sagt sie, und ich betrachte die vielen nebelfeinen Schweißtröpfchen, die ihre braunen Schultern bedecken.
„Sehen Sie“, sagt sie und streicht ihre Locken zurück, „ Milli kann ihn nicht so zugerichtet haben, sie hat ja kaum noch Zähne. Und ich? Glauben Sie denn im Ernst, ich könnte mich in so eine Furie verwandeln? Eine, die einem armen Jungen einen Kugelschreiber ins Auge stößt, ihm mit ihren Krallen die Brust zerschneidet, und ihm zum Schluss sein bestes Stück abbeißt und es in diese Mülltonne da neben ihnen spuckt?“
Ich versuche mit meinen Augen nicht dieser kleinen Schweißperle zu folgen, die gerade in ihren Ausschnitt kullert.
„Glauben Sie, dass ich so eine bin?“
Sie ist mit ihrem Mund sehr nahe n meinem Gesicht, und ihr Atem riecht nach Anis und frischer Minze.
„Glaubst du wirklich, Herr Kommissar, dass ich so eine bin?“
Sie kann all diese Einzelheiten nicht wissen, geht es mir durch den Kopf, wir hatten diese Informationen unter Verschluss gehalten ...
Sie legt ihren Arm um meinen Nacken.
„Sag schon, glaubst du, dass ich so eine bin?“
„Nein.“
„Und du wirst auch nicht deine Pflicht tun und die Mülltonne untersuchen?“
„Nein“.
„Dann ist es gut“, sagt sie und haucht mir ein Küsschen auf die Wange, "dann ist es gut.“
Sie geht, und mir bleibt ein Atemzug von einer Meeresbrise, die durch einen Orangenhain weht.


J.H.



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