Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Montag, 31. Dezember 2012

Dürfen Christen traurig sein?

Dürfen Christen traurig sein?


„Was für eine dumme Frage!“, sagt einer der Brüder, „Natürlich nicht! Die Freude am Herrn ist unsere Stärke, mein Lieber,“ er schlägt mir auf die Schulter, „immer fröhlich. Immer immer fröhlich ... Wir glauben schließlich, dass wir in Gottes Herrlichkeit eingehen. Oder?“
Er sieht mir in die Augen: „Oder?“
Ich nicke, weil er mir sonst vielleicht den Arm bricht.

Ein Freund, der meine Überzeugungen noch nie teilen konnte, sagt: „Ach, wein´ doch ruhig, heul` dich aus, du hast allen Grund dazu. Erst dieser Verlust, und jetzt auch noch die Enttäuschung, dass es dir trotz deines Glaubens kein Bisschen besser geht, als jedem Anderen.
Was ist das für ein Gott, der dich allein lässt in deinem Elend? Es ist alles frommer Unsinn. Ich habe es gewusst. Ich hab`s immer gewusst, aber du wolltest ja nicht auf mich hören.
Ich nicke, damit er den Mund hält. Vielen Dank, für die Anteilnahme.

Ich gehe in Gottes Ewigkeit, ich gehe nachhause - wenn ich gehe. Meine Zeit hier auf der Erde, ist nur ein Teil meines Lebens, aber kommt der Begriff „Trauer“ deshalb in Gottes und meinem Vokabular nicht mehr vor?

Stellt euch einmal vor: Da gibt es eine Pier.
Eine Pier, von der früher die Ozeanriesen in die „Neue Welt“ abgelegt haben.
Denkt euch, an diesem Kai gäbe es einen Passagierdampfer, aber anstatt ins Land der Wolkenkratzer, fährt dieser in die Ewigkeit.
Der „Dicke Pott“ macht an der Columbuskaje fest.
Rauch quillt dicht und weiß aus seinem Schornstein und das Tuten seines Nebelhorns lässt die Kaje erzittern. Die Möwen kreischen, die Ankerkette rumpelt gegen die Bordwand, die Gangway wird heruntergelassen.
Einer von uns geht an Bord.
Kein Koffer, kein Blick zurück.
Wir stehen am Ufer. Wir schauen zu, und winken.
Die Luft ist salzig, es riecht nach Brackwasser und feuchtem Tauwerk.
Ein Schifferklavier stimmt „Welch ein Freund ist unser Jesus“ an, und einer erinnert sich an die letzten Wochen.
Er denkt an Neonlicht, an Infusionen, an Katheter, Bettpfannen, den Geruch von Desinfektionsmitteln und an - Hilflosigkeit. Aber das ist jetzt alles vorbei.
Endgültig vorbei.
Kein Küchendunst im Fahrstuhl mehr, keine Gesundheitslatschen, die über die Gänge quietschen. Kein dritter Stock, wo die hoffnungslosen Fälle liegen.
Es ist vollbracht – Gott sei Dank!
Seine Erleichterung bricht aus ihm heraus: „Seht nur,“ er läuft auf der Kaimauer entlang und seine Stimme will sich überschlagen, „Seht! Es ist geschafft! Jetzt wird alles gut! Jetzt kann ihm nichts Schlimmes mehr passieren – gute Reise, mein Freund, gute Reise! Und grüß `mir die Lieben schön!“

Jesus nickt ihm zu – und lächelt. Er hat teuer für diese Passage bezahlt.

Einem Anderen fällt das Winken schwer.
So schwer, dass er seine Hand sinken lässt, sich umdreht, den Kragen hochschlägt und seine Hände bis an die Ellenbogen in den Manteltaschen vergräbt. Es ist alles logisch, es ist alles wahr, aber es ist auch alles viel zu groß.
Er meint, seinen Atem vor dem Gesicht zu sehen. Ist es tatsächlich Mitte August?
Er geht, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen. Sein Blick klebt an den Spitzen seiner Sonntagsschuhe. Ein Tropfen sammelt sich an seiner Nasenspitze, seine Brust wird eng und sein Magen zieht sich zusammen. Der Wind ist schuld. Der treibt einem die Tränen in die Augen.
Nur weg hier, weg!

Er hört Schritte, die ihm nachlaufen.
Jemand bufft ihn in die Seite:
„Hey, du willst doch wohl nicht anfangen zu heulen, oder?“
„Doch, Herr, das will ich.“
„Brauchst du `n Taschentuch?“
„Ja.“
„Hier, nimm.“
„Darf ich da rein schnauben?“
„Klar, ist doch meins.“
„Danke.“
„Und, wo willst du jetzt hin?“
„Ich weiß es nicht, Herr, ... ich weiß es verdammt noch mal wirklich nicht.“
„Dann ist es gut, dann komme ich mit.“

In der Ferne spielt das Schifferklavier „Welch ein Freund ist unser Jesus“, und das Schifferklavier hat da wohl Recht


J.H..

Dienstag, 23. Oktober 2012

Die Sache mit Drei-Finger-Joe

Die Sache mit Drei-Finger-Joe

Es war ein heißer, schwüler Nachmittag in Fort Lauderdale. Genauso unerträglich, wie jeder andere verdammte Nachmittag in diesem verdammten Florida, dachte Agent Myers.
An anderen Tagen funktionierte wenigstens die Klimaanlage, aber die war am frühen Vormittag ausgefallen, und so hatte sich das Polizeipräsidium in etwas verwandelt, dessen Klima es mit jeder Waschküche aufnehmen konnte. Samuel Myers war erst vor acht Wochen aus New York hierher versetzt worden und er hasste diesen so genannten „Sunshine State“ seit er das Flugzeug verlassen hatte.
Er grüßte knapp, als ihm Officer Mc Mullen, ein breitschultriger Kollege in Uniform, die Tür zu Verhörraum Nr.4 öffnete. Darin befanden sich ein Tisch, zwei Stühle und ein hagerer Kerl, der auf einem der Stühle saß. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber auch in diesem schattigen Halbdunkel, war zu erkennen, dass der Mann auffallend teuer gekleidet war. Nur seine weißen Lederhandschuhe wirkten unpassend. „Mafia-fashion“, Myers grinste.
„Hi, ich bin Agent Samuel Myers.“
„Ich weiß“, sagte der Mann.
Der Agent nahm sich den freien Stuhl und setzte sich. Er warf einen Blick in den Aktenordner, den er mitgebracht hatte: „Ihr Name ist Giovanni Bugiardo?“
„Ja.“
„Hier steht, dass man Sie auch `Drei-Finger-Joe` nennt.“ 
„Das kommt vor.“
„Merkwürdig. Wie ich sehe, haben Sie noch alle ihre Finger.“ 
„Das hat nichts miteinander zu tun.“
„Und die Handschuhe, warum tragen Sie die?“
„Fragen Sie meinen Hautarzt. Ich brauche dazu nichts zu sagen.“
„Mr.Bugiardo, sie wissen, was man Ihnen vorwirft?“
„Darf ich rauchen?“
„Rauchen? Natürlich, aber ich habe keine Zigaretten dabei.“ 
„Ich habe alles, was ich brauche, Sie müssten mich nur von diesen Dingern hier befreien.“
„Die Handschellen?“
„Ja bitte.“
Myers zögerte einen Moment, dann ging er zur Tür und gab dem Kollegen draußen seinen Revolver. Er wollte kein Risiko eingehen. Dann ging er zurück und nahm Joe die Fesseln ab. „Gut, aber keine faulen Tricks.“
„Ich werde nicht weglaufen, keine Angst.“ Der Mafiamann holte ein flaches Etui hervor, nahm eine Zigarette heraus und steckte es zurück.
„Mr. Bugiardo, sie werden beschuldigt, sechs junge Frauen ermordet zu haben.“
„Es waren sieben.“
„Was sagen sie da?“
Joe fingerte ein silbernes Feuerzeug aus seiner Hosentasche: „Die Letzte habt ihr nur noch nicht gefunden.“
„Sie geben es zu?“
„Natürlich, ist doch egal.“
„Egal?“
Der Mafioso steckte seine Zigarette in Brand: „Ja, es ist egal, ob ich es zugebe, weil du mich sowieso laufen lässt.“
„Ich werde Sie laufen Lassen? Warum sollte ich das tun?“ 
„Weil ich dir sonst erkläre, was es mit meinem Spitznamen auf sich hat.“
„Ach ja? Und was sollte das sein?“
Joe hob den Daumen seiner linken Hand: „Eins“, sagte er, „Ich werde dir ein bisschen wehtun.“ Er hob den Zeigefinger: „Zwei. Ich werde dir ein wenig mehr wehtun. „Bei drei“, er streckte den Mittelfinger aus, „wird es für dich richtig unangenehm.“
„Sie wollen mir drohen?“
Bugiardo lächelte: „Ein schönes Auto hast Du da auf dem Parkplatz.“
„Was geht sie mein Auto an?“
Joe klappte sein Feuerzeug auf und drückte einen verborgenen Mechanismus. „Eins!", sagte er, und von draußen war eine gewaltige Explosion zu hören.
Myers stürzte zum Fenster und sah seinen Wagen in hellen Flammen stehen. Er drehte sich um: „Sie Wahnsinniger, was haben sie getan?“
Auf dem Flur waren eilige Schritte und laute Rufe zu hören. 
„Ich habe sieben Frauen getötet und gerade Deinen Mustang in die Luft gejagt. Kann ich jetzt gehen?“
„Sie Drecksack! Ich werde Sie abknallen.“
Drei Finger Joe winkte lässig ab: „Nein, das wirst Du nicht.“
„Ach, und warum nicht?“
„Weil Du dann nie erfährst, wie Du das Leben deiner Familie retten kannst.“ 
Myers stürzte sich auf ihn, griff die Revers seiner Jacke und hob Joe in die Höhe: „Meine Familie? Was ist mit meiner Familie, Du Mistkerl.“
Joe blieb die Ruhe selbst: „Pfoten weg, sonst erfährst Du gar nichts.“
Myers ließ ihn los. „Also gut, reden Sie.“
„Lässt Du mich laufen?“
„Kann schon sein.“
„Schwörst du`s?“
„Ja, verdammt nochmal. Ja.“
„Die Explosion hat einen Impuls gesendet. In drei Minuten geht Deine Garage hoch. Hast du ein Handy?“
„Ja.“
„Dann ruf` Deine Frau an und sag ihr, sie soll in den Keller gehen. Los, beeil dich.“
Myers holte mit fliegenden Fingern sein Mobiltelefon heraus: „Schatz? Hallo Schatz – ja, ich bin`s. Hör zu, stell keine Fragen. Nimm Josh und den Hund und geh so schnell du kannst runter in den Keller. Sofort!“ Der Schweiß lief Myers in Strömen übers Gesicht. 
Joe drückte seine Kippe auf der Tischplatte aus und erhob sich: „Gut, dann können wir ja jetzt gehen.“
„Gehen?“ Myers schnaubte verächtlich, „ Du gehst nirgendwo hin. Nur in den Knast – und dann auf den Stuhl!“
„Zwei!", sagte Joe und hielt Myers seinen Zeigefinger vor die Nase, „Du brichst dein Wort, und du hast geflucht, das tut man nicht. Darum werden Deine Lieben in genau acht Minuten diese schöne Welt verlassen.“
„Was?“
„Dein Anruf, mein Freund, hat die Ladung erst scharf geschaltet. Und, sie ist auch nicht in der Garage ...“
„Du verdammter ...“ Ein Schuss peitschte die Luft, dann sackte Myers zusammen.
„Drei“, sagte Joe und sah auf die rauchende Kuppe seines rechten „Zeigefingers“.
„Falls du es genau wissen willst“, flüsterte er, „bald sind es acht.“ Er klopfte drei Mal an die Tür. Der wachhabende Officer öffnete ihm.
„O.K Mc Mullen“, sagte Joe und klopfte dem Mann vertraulich auf die Schulter, „Agent Myers hat mir soeben die Erlaubnis gegeben, diese gastliche Stätte zu verlassen. Los bring mich raus.“
„Ich glaube, du bleibst besser hier.“
„Wie?“
„Du hast gerade einen Agenten der Bundespolizei erschossen.“ 
Joe verzog das Gesicht: „Ach, sag bloß. Darauf wäre ich von selbst nicht gekommen. Mach keinen Quatsch und bring mich zum Hinterausgang. Mein Wagen wartet.“
„Nein.“
„Nein? Was soll das heißen, du irischer Vollidiot, du stehst auf meiner Gehaltsliste.“
„Du bleibst hier Joe.“
„Gut, wenn du es nicht anders willst, werde ich jetzt bis drei zählen. Du weißt, was das heißt.“
Mc Mullen griff Joes rechten Arm und presste ihn gegen die Wand, gleichzeitig zog er die 38er, die Myers ihm gegeben hatte, aus dem Hosenbund. "Seit zwanzig Jahren bedrohst, und erpresst du mich jetzt Mr. Dreifinger. Ich habe getan, was du wolltest, aber damit ist jetzt Schluss.“ Er drückte Joe den Revolver gegen die Rippen.
Der Mafioso grinste ihn an: „Du wirst mich nicht erschießen. Du bist ein Bulle, du bist an die Gesetze gebunden.“
„Ich schon“, sagte der Officer. Dann deutete er mit dem Kopf in Myers` Richtung, „aber er nicht.“
Mc Mullen schleuderte Joe in den Raum zurück, dann bellte die 38er einmal kurz auf. Der Officer wischte die Pistole ab und legte sie dem toten Agenten in die Hand. Er nahm sein Funkgerät: 
„Hier Officer Mc Mullen, brauche dringend Verstärkung und einen Krankenwagen. Habe hier zwei Verletzte in Vernehmungsraum Nr.4, beeilt euch.“ 
Sie würden zu spät kommen, ganz egal, mit wie viel Blaulicht sie auch anrückten. Mc Mullen atmete tief durch. 
Diesen linken Spaghetti war er los, und die „Familie“ konnte ihm nichts. Schließlich hatte er Drei-Finger-Joe nach Kräften unterstützt und sogar den Sprengstoff unter dem Auto deponiert. Agent Myers war bestimmt ein Verlust, aber adererseits hatte Mc Mullen  diese lackierten FBI Typen noch nie wirklich leiden können.

J.H.

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Der Dümpel

Der Dümpel

Eduard Pedersen war ein zufriedener Mensch. Er hatte sich in seinem Leben eingerichtet. Nicht etwa, wie man sich bei einem schwedischen Möbelhaus einrichtet, nur für eine gewisse Zeit, um dann bald alles wieder neu zu machen.
Nein, seine „Einrichtung“ war von fester, bleibender Qualität. Stabil genug für ein ganzes Leben. Er hatte schon in jungen Jahren die höhere Beamtenlaufbahn beim Finanzamt eingeschlagen, sich eine Schweizer Armbanduhr und ein Jahresticket für den Bus gekauft. Der Pünktlichkeit wegen. 
Pedersen war mit sich und der Welt im Einklang – bis zum 6. November 2010, einem Donnerstag, um 17:45.
Er hatte den Bus wie jeden Abend nach Dienstschluss bestiegen, ein paar Belanglosigkeiten mit Wilhelm Koslowski, dem Fahrer, gewechselt und sich dann auf einen der hinteren Plätze nahe dem Ausgang gesetzt – nur für den Fall.
Er hatte mit geschlossenen Augen ein wenig vor sich hingedöst, als sich unerwartet jemand mit einiger Mühe auf den Sitzplatz neben ihm drängte. Es musste ein besonders beleibter Mensch sein. Aber es war kein Mensch.
Es war ein Riese.
Ein Riese, mit einem weißen Gewand, der, obwohl er sich unbequem zusammenkrümmte, immer noch mit dem Hinterkopf das Wagendach berührte. Er trug goldene Sandalen und stützte sich auf mächtiges Schwert, an dem bläuliche Flammen empor züngelten.
„Eduard, wir müssen reden“, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die eigentlich das Fensterglas hätte bersten lassen müssen. Nicht unerträglich laut, aber machtvoll wie Kirchenglocken mit Orgelpfeifen gemischt.
„Wir?", fragte Pedersen und sah sich um. Die anderen Fahrgäste schienen nichts gehört zu haben. Sie nahmen eigentlich überhaupt keine Notiz von dieser ungeheuerlichen Erscheinung.
„Ja Eduard, wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.“
„Aber worüber denn?“
„Über deinen Lebenswandel, mein Lieber.“
„Über meinen Lebenswandel? Aber damit ist doch alles in Ordnung. Ich kann mir nicht vorstellen, was es daran zu bemängeln gäbe.“
„Schon klar, dass du dir das nicht vorstellen kannst, mein kleiner, sauberer Finanzinspektor.“
Pedersen nahm Haltung an: „Wer oder was sind sie eigentlich, dass sie meinen, mich hier belästigen zu dürfen?“
Der Hüne sah ihn schräg von oben an: „Oh entschuldige, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Nathanael, und wenn du mich „Nati“ nennen solltest, haue ich dir eine rein. Was ich bin, willst du wissen? Oh, ich bin nur ein etwas zu groß geratener Staubsaugervertreter, der luftig weite Gewänder liebt und wegen seiner Schweißfüße mit goldenen Badelatschen herumläuft. Die Flügel auf meinem Rücken und das Flammenschwert sind eigentlich nur Staffage, da braucht man sich nichts weiter bei zu denken.“ Er legte Eduard seine rechte Klodeckelpranke aufs Knie:“ Alles klar?“ In den Glockenklang seiner Stimme hatte  sich ein leichtes Donnergrollen gemischt.
„Sie sind also tatsächlich ein ...", stotterte Pedersen. 
„Ein Engel, ganz genau. Ein richtig echter, naturbelassener Erzengel, um ganz genau zu sein. Du kannst mich ruhig duzen, aber wehe, wenn du mich Nati nennst.“
„Natürlich nicht“.
„Natürlich nicht, natürlich nicht!", donnerte Nathanael „ Mann, wie ich diese Duckmäuserei hasse.“
„Wie?“
„Du bist ein „Dümpel“, mein Freund. Ein echter, zahnloser Lauwarmdümpel.“
„Ich habe keine Ahnung, was sie meinen, aber ich bemühe mich stets ein ordentlicher ...“
„Dümpel zu sein?“
„Nein, ein ordentlicher Mensch zu sein“, sagte Pedersen. 
Die Flammen an Nathanaels Schwert loderten in einem wütenden dunkelrot: „Ein Mensch willst du sein, du Ahnungsloser? Nein, du bist eine Schande für das ganze Menschengeschlecht, ein Schlag ins Gesicht der Schöpfung!“
„Aber ich bin ein Mensch.“
„Du siehst vielleicht aus wie einer, aber du bist nicht menschlich. Der Mensch wurde als Mann und Frau erschaffen. Bist du eine Frau? Nein. Bist du ein Mann? Auch nicht.“ 
„Aber natürlich bin ich ein ...“
„Rede keinen Blödsinn! Der Mann ist ein Kämpfer, ein Krieger, ein Jäger. Einer dem nichts egal ist. Einer, der selbst für die Ehre seines Taubenzüchtervereins in den Krieg ziehen würde. Und vor allem, einer der die Weiber liebt.“ Der Engel hob eine Augenbraue: „Und, Eduard, bist du so einer?“
„Nein, aber die Corinna ...“
„Die Corinna hast du geliebt? Mensch Pedersen, das war in der Grundschule. Du hast ihr ein peinliches Gedicht geschrieben, sie hat sich darüber lustig gemacht und du bist heulend zu deiner Mutti gelaufen. Soviel zu deinen Weibergeschichten.“
„Ich bin eben für diese Dinge nicht gemacht.“
„Nicht gemacht?", donnerte Nathanael, „jetzt soll wohl noch ein Anderer für dein mickeriges Dasein verantwortlich sein, oder wie? Was du bist, hast du selbst erschaffen, und das ist Blasphemie; so was wird nicht geduldet.“
Der Engel hob sein grausames Schwert und hielt es vor sich: „ Damit ist jetzt Schluss.“
„Schluss?", rief Pedersen und hielt seine Arme vor das Gesicht, „was soll das heißen?“
„Das soll heißen, dass mein Schwert jetzt deinem bedauernswerten Dümpel-Dasein ein Ende bereiten wird. Erst werde ich deinen zarten Bürokratenhintern in hauchdünne, rauchende Scheiben schneiden und dann deine nutzlose Seele in die ewige Finsternis ...“
„Nein, bitte nicht!", flehte Pedersen, „ ich kann mich ändern. Ich kann ein richtiger Mann werden, ganz bestimmt. Wenn du mir dabei hilfst, dann kann ich das.“
Der Engel warf ihm einen verächtlichen Blick zu: „Ich soll dir helfen?“
„Ja bitte, nur ein bisschen. Du bist doch ein Engel, du kannst das. Nur ein kleiner Schubs in die richtige Richtung so zusagen.“
Nathanael kratzte sich am Kinn: „Einen kleinen Schubs in die richtige Richtung?“
„Ja, das wird völlig ausreichen.“
Der Engel atmete tief durch, dann drückte er seinen imposanten Daumen auf Pedersens Stirn und sagte: „ O.K. mein Freund, aber wehe, wenn du das hier vergeigst. Dann komme ich wieder.“
Für einen Moment wurde um Pedersen alles in blendendes Licht getaucht, und als er wieder sehen konnte, war der Engel verschwunden. Nur ein ganz leichter Schwefelgeruch lag noch in der Luft.

Was für einen verdammten Schwachsinn man doch so träumen kann, dachte Pedersen, als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Er stand mühsam auf, kratzt sich ausgiebig und schlurfte ins Badezimmer. Er klappte die Klobrille herunter und wollte sich gerade hinsetzen, als er eine leise Stimme hörte: „Ede, sei ein Mann.“ Pedersen drehte sich um, klappte die Brille wieder hoch und pinkelte im Stehen.
Ein Anfang war gemacht.

J.H.

Mittwoch, 22. August 2012

Robinson und Samstag

Robinson und Samstag

Der Kies knirscht unter meinen Schuhsohlen, es ist ein breiter Weg. Rechts und links sind Rhododendren gepflanzt.
Sie sind mindestens fünf Meter hoch und bestimmt hundert Jahre alt. Das sind nur vierzig Jahre mehr, als ich selbst bin – meine Güte. 
Ich kann Orte wie diesen nicht leiden, obwohl sie oft die lebendigsten und blühendsten Plätze in den Städten sind. Es gibt sie nur, weil es den Tod gibt, darum mag sie nicht. 
Sie sind niemals kühl, sondern immer kalt und zugig, selbst, wenn überall in der Stadt Hochsommer herrscht. Eine Merkwürdigkeit, aber irgendwie doch passend.
Am Ende des Weges hockt ein wuchtiger Klotz aus Backsteinen, der an einen Luftschutzbunker erinnert. 
Der Weg führt direkt auf die Freitreppe vor diesem Gebäude zu, und die Rhododendren machen ein Ausbrechen unmöglich; Fluchtwege gibt es nicht. 
Ein mageres Kreuz ist an der Stirnseite des Bunkers angebracht, aber es kann mich genauso wenig trösten, wie der verblichene Bibelvers darunter. 
Ich bin spät dran und die eisenbeschlagenen Türen haben sich wohl schon seit einigen Minuten hinter der Trauergesellschaft geschlossen. Ich will mich nicht hineinschleichen, sondern gehe lieber hinter das Gebäude, wo die öffentlichen Toiletten sind und die Leichenwagen stehen. 
Ich stecke mir eine Zigarette an.
Marlene, denke ich, Marlene Schimke.Geboren am 9. Oktober 1950 gestorben am 17.Juli 2010, so wird es wohl auf ihrem Stein zu lesen sein. 
Ich war siebzehn, als sie mit ihrem Vater in unsere Nachbarschaft zog. 
Er war Hauptschullehrer und hatte sich, nach der Trennung von Marlenes Mutter (der alten Schlangenhure, wie Marlene sie nannte), hierher versetzen lassen. Marlene kam am 26. September 1967 in unsere Klasse, nicht lange vor ihrem siebzehnten Geburtstag. Als ich sie das erste Mal sah, passierte etwas mit mir, das ich bis heute nicht erklären kann. Ich saß da, wie ein Depp mit offenem Mund, solange bis mein Kumpel Hannes neben mir mich in die Seite boxte und sagte: „Du wirst dir noch auf`s Hemd sabbern, Mensch.“ Ich riss mich zusammen, denn es war mir peinlich, so erwischt worden zu sein, aber wie ein Zauber oder Fluch hatte mich etwas ergriffen, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Neben Marlene wirkten die ganzen anderen „Hühner“ wie trockener Schiffszwieback. Auch wenn sie sich aufreizend kleideten, die Augen schwarz bemalten und in den Pausen mit ihren knallroten Mündern Zigaretten pafften. Ihr ganzes Gehabe versprach einfach nur Dinge, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten. Bei Marlene war es ganz anders. Sie kleidete sich unscheinbar, ja geradezu bieder, mit ihren Faltenröcken und den gestärkten Blusen. Sie trug auch nie die Haare offen, oder sogar toupiert wie all die anderen Gänse. Aber sie strahlte etwas aus, das mir sagte, sie würde alle Versprechen halten, die ich mir erträumte.
Sie saß drei Reihen vor mir und ich verbrachte meine Vormittage damit, in ihre Nackenhärchen zu träumen. Mein bester und einziger Freund Hannes zog mich oft damit auf. „Robinson, mein Alter, wenn du der Kleinen weiterhin so hinterher schielst, wirst du den Rest deiner Tage alles doppelt sehen. Das kriegt man nie wieder richtig.“ Wir kannten uns schon seit der vierten Klasse, und er nannte mich „Robinson“, weil ich schon immer einen Hang zur Einsiedelei hatte. Als ich ihn daraufhin „Freitag“ nennen wollte, wehrte er ab:„ Nee Robinson, ein „Freitag“ bin ich bestimmt nicht. Da ist doch nichts los. Ich bin auf jeden Fall ein „Samstag“. Der schläft immer lange aus, am Nachmittag laufen immer die besten Spiele und am Abend geht`s dann erst richtig los. Wenigstens, wenn wir etwas größer sind.“ So wurden wir Robinson und Samstag, die besten Kumpel, obwohl wir so unterschiedlich waren, wie Huhn und Hase. Ich, Robinson Erwin Eisenbach war in allen Fächern immer einer der Besten, von Sport und Werken einmal abgesehen. Ich las alles von Karl May und Jules Verne und bemalte Zinnsoldaten. Ich war mager und meine Haut war von aristokratischer Blässe, denn ich mied den Sonnenschein fast genauso sorgfältig, wie den Kontakt zu anderen Menschen. Meine Mutter und Hannes natürlich ausgenommen. Er, Hannes „Samstag“ Jäger war schon mit drei Jahren nur auf dem Hinterrad mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und so blieb es. Er wurde zum besten Sportler unserer Schule und der breitschultrige Schwarm aller Mädchen, was ihm allerdings nicht viel bedeutete. Wir waren wie Brüder, bis Marlene mich eines Tages fragte, ob ich ihr nicht Nachhilfe in höherer Mathematik geben würde …
Ich verscharre meine Zigarettenkippe im Kies und mache mich auf zu den Leichenwagen. Mal sehen, ob die wohl Radios eingebaut haben. Hinter mir höre ich Schritte, die sich nähern.
Erwin bist du das?", sagt eine Stimme, die ich ewig nicht gehört habe. Die Schritte sind jetzt ganz nah: "Erwin?“
Ein Schaudern läuft über meinen Rücken, ich drehe mich um: „ Ja, mein Name ist Erwin. Erwin Eisenbach.“
Vor mir steht ein alter Mann. Immer noch groß, aber sehr mager und faltig, mit grauen Stoppeln im Gesicht.
Seine Augen leuchten mich an, er hat einen Tropfen an der Nase, den er mit dem Ärmel wegwischt.
Erwin, he Robinson, weißt du nicht mehr, wer ich bin?“
Ich muss mich räuspern:„Nein, tut mir leid.“
Er macht einen Schritt auf mich zu und will nach meiner Schulter fassen: „Mensch Erwin ...“.
Ich weiche vor ihm zurück, und er greift ins Leere.
Ich bin`s Erwin, Hannes.“
Wer?“
Ich bin Hannes. Hannes „Samstag“ Jäger.“
Ich schüttele den Kopf: „ Nein, das ist nicht möglich. Mein Freund Hannes Samstag ist schon lange tot.“
Tot? So ein Quatsch! Erwin, ich bin`s wirklich. Dein alter Kumpel Samstag. Ich bin nicht tot, sieh mich doch mal an.“ „Halten sie den Mund! Ich brauche sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie ein Lügner sind. Mein Freund Hannes starb an einem Sommerabend im Jahre 1968.“
Woran ist er denn gestorben?“
Er küsste die Tochter einer Schlangenhure und starb daran.“ „Aber wo, Erwin, wo bin ich denn dann begraben, wenn ich wirklich tot sein sollte?“
Hier“, sage ich und deute auf meine Brust. Ich gehe an ihm vorbei, den Kiesweg entlang auf das große Eingangsportal zu.
Sollen doch die Toten ihre Toten begraben“, denke ich und wische mir einen Tropfen von der Nase.

J.H.

Samstag, 21. Juli 2012

Linie 451


Linie 451

„Sie heißen Johannes Diehsel?“
„Hannes Diehsel, nicht Johannes.“
„Gut Herr Diehsel, dann erzählen sie uns doch mal Ihre Sicht der Dinge.“
„Meine Sicht? Hier geht es um Prinzipien, um Tugenden, um Werte und nicht um „meine Sicht“. Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Treue, Fleiß, Korrektheit und Gehorsam. Und natürlich um die Größte unter ihnen, die „Königsdisziplin“.
„Die Größte?
„Die Pünktlichkeit, natürlich.“
„Die Pünktlichkeit?“
Aber sicher. Alle anderen Tugenden kann man erreichen, indem man die jeweilige Untugend einfach ablegt. Die Pünktlichkeit aber, die ist nur durch einen ständigen Kampf zu erlangen, denn wer sie will, der hat eine hinterhältige Gegenspielerin.“
Und wer oder was sollte das Ihrer Meinung nach sein?“
Das ist die Zeit. Die scheint ganz geradlinig und berechenbar zu sein, die läuft auch brav hinter einem her, wenn man ihr einen Schritt voraus ist, aber wehe, du bist unachtsam, dann überholt sie dich, lässt dich zurück und macht dich zum Gespött der Leute. Die ist eine falsche Schlange, die man beherrschen muss. Ich bin jetzt seit dreißig Jahren Busfahrer bei uns in Bocholt, auf Linie 451, ich weiß, wovon ich rede.“
Wann ist Ihnen dies das erste Mal derart deutlich geworden, Herr Diehsel?“
Wissen Sie, ich hatte da schon immer so einen Verdacht. Aber an meinem ersten Arbeitstag bei der BBV., ist bei mir endgültig der Groschen gefallen. Ich war neunzehn. Mutter hatte die Uniform gründlich ausgebürstet, das Hemd gebügelt und die Schuhe auf Hochglanz poliert. Ich war pünktlich aufgestanden und alles hätte gut gehen müssen, aber als ich meinen linken Schuh zubinden wollte, da riss der Senkel so unglücklich, dass er nicht mehr zu gebrauchen war. Ich war aufgeregt und brauchte geschlagene vier Minuten, bis das neue Schnürband endlich eingefädelt war, und ich die Schleife gebunden hatte. Ich bin aus dem Haus gestürmt, die Branderheide runter, aber wie sehr ich mich auch beeilt hab, auf meinem Weg kamen von überall immer noch ein paar Sekunden dazu. Dadurch kam ich mit sechseinhalb Minuten Verspätung auf dem Betriebshof an. Die Busse waren so in der Halle geparkt, dass sie nur der Reihe nach herausgefahren werden konnten. Meiner war der Erste, und weil ich nicht rechtzeitig war, hatten alle Linien an diesem Tag unglaubliche Acht! Minuten Verspätung. Da hab ich mir geschworen, dass so was bei mir nie wieder vorkommen würde.“
Und, haben Sie dieses Ziel erreicht?“
Das kann man wohl sagen. In den folgenden dreißig Jahren habe ich keine einzige Minute mehr verloren, keinen Tag wegen Krankheit gefehlt und, weil ich auch die Sorgfalt immer hochgehalten hab, hatte ich nie einen Unfall.“
Herr Diehsel, bitte erzählen Sie uns doch einmal kurz Ihren Tagesablauf.“
Daran ist nichts Besonderes. 5:00 aufstehen, dann in die Küche den Wasserkocher anstellen, ins Bad – 6 Minuten. 5:06 Kaffee aufgießen, Uniform anziehen 4 Minuten, Frühstück 8 Minuten. Um 5:20 die Frau zum Abschied auf beide Wangen küssen, verlasse das Haus, steige auf`s Fahrrad und erreiche nach 10 Minuten um 5:30 das Busdepot.“
Beachtlich, Herr Diehsel. Gilt dies alles auch für Ihre Freizeit?“
Aber sicher, das gilt für alles.“
Und Ihre Frau hat Sie darin immer unterstützt?“
Natasha? Oh, ganz am Anfang nicht, aber die hat sich schnell eines Besseren besonnen, das kann ich Ihnen sagen. Was hätte sie auch tun sollen, so ohne Papiere und ohne Geld? Zurück nach Kasachstan vielleicht?“
Herr Diehsel, kommen wir nun zum vergangenen Freitag, dem Tag Ihres Dienstjubiläums. War da auch alles so, wie immer?“
Nein, da war nichts, wie es sein sollte. Der Wecker hatte nicht geklingelt, es war 5:04, als ich aufgewacht bin.. Vier Minuten zu spät. Ich hab dann alles im Laufschritt erledigt. Hatte schon zwei Minuten wieder gut gemacht, als ich feststellte, dass mein Hemd falsch geknöpft war. Versuchte es erneut, aber die Knöpfe und die Knopflöcher passten einfach nicht mehr zusammen. 3 Minuten minus! Schlüpfte in die Hose, zog das Sakko über, und sah, dass beides völlig zerknittert war. Ich hab nach meiner Frau gerufen: „Natasha, was ist mit meiner Uniform passiert?“
Keine Ahnung, vielleicht hat Hund drauf geschlafen“, kam es zurück.
Der Hund? Was redest du da, wir haben keinen verdammten Hund. Und wo ist meine Krawatte, ... ich kann die nicht finden.“
Vielleicht hat Hund sie gefressen!“
Bist du völlig verblödet? Wir haben doch gar keinen ...“ Ich wollte meine Schuhe zu binden, aber die Schnürsenkel waren so sehr verknotet, dass ich sie unmöglich entwirren konnte.
Natasha, du dummes Weibsstück! Komm jetzt her und hilf mir. Ich komm zu spät!“
Aus der Küche kam nur ein unschuldiges Pfeifen.
Ich kann gerade nicht. Muss nachsehen, ob Hund gut geht, wegen hat gefressen deine Krawatte.“
Also, ich bin wirklich ein feiner Kerl, da können Sie fragen, wen Sie wollen. Ich bin nachsichtig und durch nichts so schnell aus der Ruhe zu bringen, aber das war zu viel.
6 Minuten minus! Ich hab die Schnürbänder mit meinem Taschenmesser zerschnitten, um überhaupt in meine Schuhe zu kommen.
Du bist heute spät dran“, hörte ich sie aus der Küche.
Ich bin zur Küchentür gehumpelt: „Das warst Du!“ hab ich gesagt,
Das alles bist Du gewesen! Aber warte, Mädchen, wir sprechen uns später.“
Keine Ahnung was meinst du.“
Ich werde dich umbringen, du ...“.
Sie stand am Herd in ihrem fadenscheinigen Morgenrock, drehte sich zu mir um und lachte mich aus. „Womit? Mit deine kleine Messerchen? Damit kannst du genauso wenig ausrichten, wie mit deinem kleinen … “
Sei still! Sonst tue ich es wirklich.“
Und wann? Wann wirst du es tun, Herr Busfahrer, wann wirst du mich umbringen?“
Heute Nachmittag, Punkt 14:55.“
Herr Diehsel, wann kamen Sie an diesem Tag nachhause?“
Um 14:42.“
Was taten Sie?“
Ich ließ meine Tasche im Hausflur stehen und ging sofort hinters Haus in den Werkzeugschuppen.“
Was wollten Sie da?“
Den Hammer holen.“
Den Hammer?“
Ja, ich hatte mich um 13:28 entschieden, dass ich sie mit dem 5-Kilo-Fäustel erledigen wollte. Zwei bis drei Schläge, dann den Leichnam beseitigen. Zur Sportschau wäre ich zurück gewesen.“
Es lief nicht alles nach Plan, oder?“
Nein. Hören Sie, meine Werkstatt, ist eine Augenweide für jeden, der die Ordnung liebt, aber meine Frau, die hatte ganze Arbeit geleistet.
Alle meine Maschinen und Handwerkszeuge, Kabel und Gartengeräte lagen da in einem wilden Durcheinander auf der Erde, und den Inhalt von sämtlichen Schubkästen hatte sie drüber ausgeschüttet. Es war 14:46. Nur noch neun Minuten! Ich hab gewühlt, ich hab gesucht, ich musste doch den Fäustel finden. Aber die Zeit rannte mir immer schneller und schneller davon, es hatte keinen Sinn. Ich bin also aus der Werkstatt gestolpert, ins Treppenhaus und die Stufen hoch, bis in unsere Etage.“
Warum?“
Ich wollte Natasha fragen, wo sie den Hammer gelassen hatte.“
Was geschah dann?“
Die Tür war nur angelehnt. Natasha stand am Ausguss und trocknete das Geschirr ab. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr, dann sah sie mich an und lächelte.“
Ist es richtig, Herr Diehsel, dass Sie Ihre Frau, nur wenige Augenblicke
später, mit dem Nudelholz erschlugen?“
Ja.“
Und jetzt, da Sie einige Zeit zum Nachdenken hatten, tut es Ihnen leid?
Wie?“
Tut es Ihnen Leid, Herr Diehsel?“
Ja.“
Sie bedauern also, dass Sie Ihre Frau umgebracht haben?“
Nein.“
Wie soll ich das verstehen?“
Es war 14:57, und es war nicht der Fäustel“.



J.H.






Montag, 7. Mai 2012

Das Knochenmärchen


Das Knochenmärchen

Sie saß einfach an diesem Morgen an unserem Küchentisch.
Damals im „Künstlerbunker“, einem dreistöckigen Altbau in der Schillergasse, wo sich die „bunte Szene“ eingenistet hatte.
Ich kannte sie nicht, aber wir hatten ständig Besuch von irgendwelchen Leuten. Vielleicht war sie die neueste Eroberung von einem meiner Mitbewohner, vielleicht war sie auch nur von der letzten Party übrig geblieben.
Sie war hübsch, wenn einem blonde Püppchen mit weißer Bluse und Faltenrock gefielen.
Ich rückte einen benutzten Becher zu ihr hin, um zu sehen, ob sie ihn annehmen würde. „Kaffee?“ sagte ich.
Oh ja, bitte“, sie wischte ein paar Krümel beiseite.
Ich griff „Omas Familienkanne“, ein Monstrum, mit drei Litern Fassungsvermögen und einem Reichsadler auf dem Boden,
schenkte ihr ein und kleckerte absichtlich etwas auf die ohnehin schon fleckige Tischdecke.
Sie trug karierte Kniestümpfe von Burlington und flache Lederschuhe mit kleinen Bommeln oben drauf.
Milch und Zucker?“ fragte ich.
Nur Milch, bitte.“
Die ist im Kühlschrank, musst du dir eben selber nehmen.“
Dass die Milch im Kühlschrank war, wusste ich. Was sich da sonst noch so herum trieb, wollte ich lieber nicht wissen.
Sie stand auf, und ich bemerkte, dass sie recht ansprechende Kniekehlen hatte. In ihrer Aufmachung hätte sie gut in eine Bankfiliale oder ins Finanzamt gepasst.
Sie öffnete die Kühlschranktür, nahm die Milch heraus und schloss sie wieder. Der Entsetzensschrei, auf den ich gewartet hatte, blieb aus.
Den Kühlschrank nannten wir nur die „Kammer des grunzenden Schimmels“, und es ging unter Eingeweihten die Rede, man solle sich wenigstens mit einem Knüppel bewaffnen, bevor man die Tür öffnete. Sie goss die Milch, die ausnahmsweise mal nicht in fettigen Klümpchen aus der Tüte gestolpert kam, in ihre Tasse.
Ich kramte meine Pfeife hervor und stopfte sie mit meiner Privatmischung aus fünf verschiedenen Tabaksorten und einer Prise von dem „Kraut das fröhlich macht“. Wer sich auskennt, weiß wovon ich rede.
Wie heißt du?“ fragte ich.
Karina, und du?“
Jean Henri“, ich hatte meinen Namen ein wenig meinem Künstlerstatus angepasst.
Wohnst du hier?“ sie hielt ihre Tasse in beiden Händen und starrte hinein.
Ja, ich bin einer von den Wenigen, die hier nicht „vorübergehend“ zu Gast sind, und sogar ein Wenig Miete zahlen.“
Dann bist du also auch ein Künstler?“
Ach, so würde ich das nicht nennen, ich ziehe den Begriff „kreativ“ vor. Ich bin nur ein Kreativer, ein Schaffender.“
Und was machst du, Malerei?“
Ich zog an meiner Pfeife und erzeugte ein paar gelangweilte Nebelschwaden.
Hm“, sagte ich, „was die Musen angeht, bin ich durchaus für die Vielweiberei. Je nachdem, welche von ihnen dran ist, male ich oder haue etwas in Stein. Manchmal schreibe ich, und wenn mir das alles zu langweilig wird, dann mache ich Musik, um den Kopf wieder frei zu kriegen. Und du, was machst du so?“
Ich bin bei den Stadtwerken im Büro. Ich bin verantwortlich für die Abrechnungen – Gas, Wasser und so.“
Ich hätte mich totlachen mögen, weil meine Vermutung so dicht an der Wahrheit gewesen war.
Eine „Büroschnecke“ oder besser: eine „Biedermeier - Büroschnecke“ hatte sich in unsere Küche verlaufen!
Na ja“, sagte ich, „ solche Arbeit muss ja auch gemacht werden.“
Sie nahm einen Schluck Kaffee: „Es ist nicht so schlecht da. Man verdient sein Geld, und alle zwei Jahre wird man befördert.“ Sie sah zu mir herüber : „Ein schönes Armband hast du da. Ist das selbst gemacht?“
Sie hatte recht, das Armband an meinem linken Handgelenk war wirklich gelungen. Muschelstückchen und durchbohrte Klumpen von grünem Glas. Ich hatte es auf dem Flohmarkt erstanden.
Ja“, sagte ich, „ist selbst gemacht, aber ich will nicht weiter darüber reden.“
Wieso nicht?“
Es würde dich schockieren, wenn ich dir erzähle, wie ich es gemacht habe, und das will ich nicht.“ Ihre Aufmerksamkeit hatte ich, soviel war sicher.
Warum sollte es mich schockieren? Es ist doch nur Glas und weiße Steine, oder Muscheln.“
Von wegen“ , sagte ich, „Glas stimmt, aber das Weiße sind bestimmt keine Muscheln.“
Nein? Was ist es denn dann?“
Knochen.“
Was für Knochen?“
Affenknochen.“
Affenknochen?“
Von einem Rhesusäffchen.“
Wie kommt man denn an so was?“
Ich schüttelte den Kopf: „Es würde dich erschrecken, glaube mir.“
Ich erschrecke mich bestimmt nicht, los, sag schon.“
Also gut. Ich habe den Affen im Internet bestellt. Das war ganz unproblematisch, und teuer war der auch nicht – vierzig Euro, oder so.“
Und was wolltest du mit dem?“
Ich hatte gelesen, dass Rhesusäffchen ganz besonders kluge Tiere sind. Und da wollte ich mal etwas ausprobieren.“
Ausprobieren?“
Ich wollte ihm etwas beibringen.“
Und was?“
Sprechen. Ich wollte, dass er sprechen lernt, und vielleicht hätte ich ihm dann später auch das ein oder andere Volkslied beigebracht.“
Und?“
Hat nicht funktioniert. Das blöde Vieh hat nur rumgekreischt, alles mögliche kaputt gemacht und auf mein Bett gepinkelt.“
Und dann?“
Ich habe es ganze zwei Tage versucht, dann hatte ich die Nase voll. Kein Wort wollte er sprechen, der absolute Fehlkauf war das.“
Karina rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, und es war klar, dass ihr langsam Mulmig wurde. Aber ihre Neugier war stärker.
Hast du ihm einen Namen gegeben?“
Coco, ich habe ihn Coco genannt, es gibt da so eine Sendung im Kinderkanal. Ich fand das ganz passend.“
Und … was hast du dann mit … Coco gemacht?“
Was ich gemacht habe, was ich gemacht habe … ich glaube nicht, dass du das wirklich wissen willst.“
„Doch, ich will das wissen, bestimmt.“
Tja, Karina, du kleine fliederweiße Büropomeranze, dachte ich, dann mach dich mal auf was gefasst.
Ich beugte mich vor, sah ihr direkt in die Augen und ließ meine Stimme zu einem düsteren Flüstern werden: „Ich habe ihn gefangen. Mit Bananenstückchen habe ich einen Pfad durch mein Zimmer gelegt, bis ganz dicht an meinen Stuhl. Der Affe war vorsichtig, aber auch verfressen und lange nicht so schlau, wie ich geglaubt hatte. Ich verhielt mich unbeteiligt und habe gewartet. Er kam näher und stopfte die Bananen in sich rein. Er war nervös, ist immer wieder zurückgewichen und hat in die Luft geschnuppert, als ob er eine Gefahr wittern wollte. Dann war er nahe genug. Ich habe blitzschnell nach ihm gegriffen, seine Beine erwischt und ihn dann sofort drei mal, Bam! Bam! Bam! mit dem Kopf auf die Tischplatte geschlagen. Er hat nicht viel gespürt, glaube ich. Die Schädelsplitter habe ich behalten und für das Armband verwendet – den Rest habe ich in meinem Ofen gestopft und verbrannt. In meiner Bude stinkt es immer noch danach.“
Die gute Karina hatte um die Nase herum etwas Farbe verloren, und die Kaffeetasse zitterte in ihren Händen.
Aber das ist ja schrecklich“, sagte sie.
Ich stopfte meine Pfeife nach: „ Er hat es nicht anders verdient, hätte ja sprechen lernen können, der Blödmann. Du wolltest es wissen, jetzt weißt du es.“
Sie nahm einen großen Schluck aus ihrer Tasse: „ Du hast ihn umgebracht. Du hast dem armen kleinen Coco adoptiert, ihm sogar einen Namen gegeben und ihn dann auf so kaltblütige Art erschlagen ...und dann, dann hast du auch noch aus seinen Knochen ein Armband gemacht?“
Ich zuckte mit den Schultern.
Du ...“, sagte sie, „du bist wirklich ... „
Was bin ich?“
Sie sah auf ihre Schuhe : „Du bist wirklich ein Künstler.“
Wie?“
Jean“, sagte sie, „ schenkst du es mir?“
Was meinst du, das Armband?“
Sie legte den Kopf zur Seite und schenkte mir einen verträumt glitzernden, himmelblauen Blick.
Hinterher, meine ich“ sagte sie und öffnete einen Knopf an ihrer weiß-gestärkten Bluse.


Dienstag, 3. April 2012

Der Cyborg

Der Cyborg

Seit neuestem steht bei uns auf dem Deich eine Bank.
Was heißt seit neuestem, eigentlich steht die da schon seit Anfang letzten Jahres.
Im Andenken an Kapitän Harmsen, wegen der Geschichte mit den Nacktfischen.
Hab ich davon eigentlich schon erzählt?
Die „Nacktfische vor Boddelskoog“ - nicht?
Ja, das ist eine interessante Story.
Die gibt es dann bei passender Gelegenheit, aber heute nicht.

Die Bank hatte unsere Volkssparkasse gesponsert.
Ich nehme stark an, dass die nur ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie immer so knauserig mit den Zinsen sind.
Und, sie hatten sicher auch wieder gut gezockt mit unseren Spareinlagen - an der Börse, wie das bei denen so üblich ist.
Klar, das streiten sie immer ab, aber man weiß ja trotzdem, wo der Hase langläuft.
Wenn man von hinterm Deich kommt, schon mal sowieso.
Die Bank war eigentlich, das hatte der Sparkassen-Obermacker bei der Einweihung gesagt, für die ältere Generation von Boddelskoog bestimmt, damit man denn wohl an seinen letzten Tagen die Sonnenuntergänge auch immer richtig schön betrachten kann.
Blöd ist nur, bei uns gibt das gar nicht so viele, die jetzt schon damit anfangen wollen, sich ihre „letzten“ Sonnenuntergänge anzusehen.
Alt genug dazu wäre wohl der olle Erwin Petermann, aber der ist Vegetarier und lebt nur aus dem Reformhaus. So einer kann so alt werden wie ne Riesenschildkröte von Galapagos.
Und Heinz Piepenbrock, aber Heinz Piepenbrock ist mit seinen dreiundachtzig-einhalb noch so gut beisammen, den muss der Sensenmann schon mit einer Plattschaufel erlegen.
Die beiden setzen sich garantiert auf keine „Seniorenbank“.

Obwohl, ich muss zugeben, man sitzt da eigentlich recht gut.
Man kann von da aus sehr angenehm nachsehen, ob das Watt denn noch da ist, oder das Wasser, und man kann sich da auch fein verabreden.
Da triffst du dann, zum Beispiel am späten Vormittag, deine Kumpels auf ne Dose Hansa Pils. Kann natürlich auch ein Herforder sein, das ist denn ja Geschmackssache.
Ich bin da immer pünktlich so gegen 10 Uhr 25.
Weil dann meine Liebste zu Hause mit dem Staubsauger um die Ecke kommt, und das kann ich ja nun gar nicht ab.
Dann muss ich mich eiligst verkrümeln, aber im Leuchtturm kannst du das natürlich vergessen, da dröhnt der alte Hoover, als ob ein B-52-Bomber über dir kreist.
Was bleibt einem also übrig, als ein bis zwei Bierchen in die Jackentasche zu stecken und den Deich zu erklimmen.
Da ist Ruhe.


Ich saß da immer zusammen mit meinem Kumpel Hein Wernersen.
Wir hatten so eine Art „Notgemeinschaft“ gegründet, weil seine Henriette macht um diese Zeit ja auch immer die Bude sauber.
Und dann bölkt sie da was rum, von wegen: „Zieh die Schuhe aus.“ und „Geh da weg, du bist im Weg“ und so.
Da macht man sich doch am besten vom Acker.
Nun, wir versammelten uns da immer morgens so gegen halb elf, auch deshalb, weil man sich um diese Zeit ja schon mit gutem Gewissen ein Schlückchen genehmigen kann. Da ist der halbe Tag schon fast rum – wird ja beinahe schon wieder dunkel.
So saßen wir also immer in schönster Eintracht, bis … ja, bis zu dem Tag, an dem Hein Wernersen diese Herzgeschichte hatte.
Das war, wie soll ich sagen, so eine Verengung von der Hauptarterie.
Die haben sie ihm im Krankenhaus dann wieder gangbar gemacht, mit einem Katheter, und dann so ein Ding da eingesetzt.
Da hab ich aber ja schon ganz ausführlich mal woanders von berichtet.
Nur, seit dem, … seit dem hatte ich die Bank für mich alleine.

Gleich, nachdem er diesen Eingriff gehabt hatte, war nichts mehr wie vorher.
Ich saß einen Tag nach seiner Entlassung da oben, pünktlich wie immer, und denke: Na, kommt der Hein denn wohl auch, oder kommt der wohl nicht?
Da seh ich auf einmal so einen kleinen Punkt ganz hinten am Horizont.
Der Punkt wird größer und immer größer, und dann stellt sich raus: Das ist tatsächlich Hein Wernersen. Auf dem alten Damenrad von seiner Henriette!
Da kam er denn da ange... naja, „angeschossen“ kann man so nicht sagen, weil so schnell war das ja damals noch nicht, aber er kam auf jeden Fall angefahren.
Er strampelte an mir vorbei und schwitzte und keuchte.
Hat kurz gegrüßt, aber angehalten hat er nicht.
Ja, hab ich gedacht, was ist denn mit dem los, hat der sein Auto kaputt?
So was kann ja mal sein, aber dann hätte er auch ruhig mal einen Ton sagen können; ich hätte ihn doch gefahren, das wäre doch kein Problem gewesen.
Dann tauchte er auch gar nicht wieder auf, an diesem Tag und am nächsten gab es das gleiche Spiel wieder von vorne.
Ich war wieder pünktlich.
Um 10 Uhr 20 hab ich meinen Posten bezogen, wie sich das gehört.
Der Himmel war wie blankgeputzt und die Sonne glitzerte auf dem Wattenmeer.
Der Wind kam ein bisschen übermütig aus Süd-Osten, aber das ist hier bei schönem Wetter eigentlich immer so.
Gegen 10 Uhr 23 tauchte der Punkt am Horizont auf.
Kam näher, wurde größer – war das wieder Hein Wernersen, und die alte Draisine klapperte und quietschte, dass sich einem die Nackenhaare aufstellten.
Ja, denk ich, das ist das alte Miele-Fahrrad, mit dem schon seine Oma vor zwanzig Jahren die Eier zum Markt gefahren hat.
Die hat dann das Ding später der Henriette vermacht.
Ein echtes Familienerbstück, aber wie lange hatte das jetzt wohl im Schuppen gestanden?
Ist ja klar, wenn man ein Auto hat, wieso sollte man da denn wohl noch mit dem Fahrrad fahren?
Die ganz kleinen Strecken läufst du zu Fuß, wollen mal sagen die dreißig Meter bis zum „Anker“, da fahre ich nicht mit dem Rad.
Und ansonsten?
Alles andere ist zu weit, da nimmt man dann doch lieber den Wagen, wozu hat man den denn schließlich sonst vor der Türe stehen?
Da kommt ein „Atomkraft nein danke“ - Aufkleber drauf, wegen der Umweltfreundlichkeit, und dann is das gut.
Das dauerte aber gar nicht lange, schon zwei Tage später, da sehe ich ihn kommen, aber hören tu ich nichts mehr.
Das quietscht nicht, das klappert nicht – nichts.
Mensch, denke ich, sollte er die alte Dame schon ein bisschen geölt haben?
Dann kommt er an mir vorbeigefahren, und ich sehe: Von wegen „geölt“!
Der hatte das gute Stück richtig auf „Sportlich“ getrimmt.
Die Schutzbleche hatte er abgeschraubt, und hinten dieses Netz, damit einem nicht der Rock in die Speichen gerät, und den Gepäckträger, der war auch nicht mehr dran.

Mensch“, ruf ich ihm zu, „was hast du da denn gemacht, wo ist denn der ganze Klapperkram hin?“

Das braucht nicht sein“, hat er gemeint, und ist an mir vorbei geschnauft. „das ist alles nur Ballast. Alles nur unnötiges Gewicht.“

Ich muss zugeben, dass sah tatsächlich schon sehr viel leichter aus – so ohne Lampe, und die Klingel fehlte auch.
Kann sein, dass er ohne diese Sachen auch schneller war als vorher, das kann ich aber jetzt nicht so wirklich beschwören.
Rein optisch war er auf jeden Fall schon ziemlich fix unterwegs.
Am nächsten Tag kam er wieder vorbei, und ich war ja auch schon so ein bisschen neugierig, ob es denn wohl wieder was Neues an dem Rad zu sehen gab.
Tatsächlich, er hatte sich einen Rennlenker angebaut, so einen, mit dem man aussieht, als wollte man gleich mal den Abflug proben. Zumal dann, wenn man so lange Beine wie Hein Wernersen hat, und der Hintern so unanständig hoch in die Lüfte ragt.
Der alte Gesundheitssattel, der wollte noch nicht so recht zu dem Ganzen passen, aber das würde Hein bestimmt noch ändern.
Hat er dann ja auch.
Im Laufe von, sagen wir mal, vierzehn Tagen, hat er aus der alten Miele Schleuder richtig was gemacht.
Der quietschende Ledersitz war verschwunden, dafür gab es jetzt so eine knallgelbe „Ritzenfeile“ aus Hartplastik.
Das tat mir schon beim hingucken weh, aber gut, wenn man keine Pläne mehr mit der Fortpflanzung hat 
und auch keine Hämorrhoiden …
Meine Sache wäre das allerdings nicht, das kannst du glauben.
Die Reifen waren auch schmaler als vorher, er hatte andere Laufräder eingebaut – irgendwas mit Alu und Carbon.
Die hatten auch nur halb so viele Speichen, wie normal.
Das kam mir allerdings doch komisch vor.

Ich sage: „Sag mal, hält das denn wohl auch?“

Ja klar, das ist alles „hochfest“ hier, mach dir mal keine Sorgen. Das hält wie verrückt.“

Bevor er dann wieder losgefahren ist, meint er noch, dass er ja auch erst ganz am Anfang mit der ganzen Tunerei wäre, und dass als Nächstes erst mal eine richtig teure Schaltung von Rohloff da eingebaut werden muss..
Ich hatte bis dahin immer gedacht, „Rohloff“ wäre ein dicker Sänger mit einem Russenkäppi.
Hein hat sich also jede Menge Teile aus dem Internet bestellt und, das muss man sagen, wenn er dann so an einem vorbei gefegt ist, dann schienen sich diese Investitionen auch wirklich gelohnt zu haben.
Es kam jetzt nur noch auf die Windrichtung an, aber am Wetter konnte ja auch die Nabenschaltung von dem dicken Sänger nichts ändern.
Als er nach ein paar Wochen mit dem Fahrrad fertig war, da wurde das aber erst richtig kriminell.
Da fing Hein Wernersen nämlich an, an sich selber rum zu tunen.
Zuerst kaufte er sich ein Paar Leggins, so was, was die Frauen eigentlich zum Turnen anziehen – in „glänzend königsblau.“ Eine Augenweide, vor allem bei Wernersens krummen O-Beinen.
Hinten war da so ein Kissen eingenäht, das sah aus, als hätte er ´ne Windel an.
Ich meine, so alt sind wir ja denn doch noch nicht – das kommt ja noch früh genug, das ganze Thema, da braucht man doch jetzt noch nicht mit anzufangen.
Und dann hatte er sich solche Turnschuhe gekauft, die man mit einem Mechanismus an den Pedalen befestigen kann.

Das ist´ne dolle Sache“, hat er gesagt, „da kann man jetzt nicht mehr abrutschen, wenn das mal feucht sein sollte, und für den runden Tritt ist das auch gut.“

Ich glaube, das ist eher für „auffe Fresse fliegen“ gut, hab ich zu bedenken gegeben, aber da wollte er natürlich nichts von hören.

Tja, was soll ich sagen, er hat sich da richtig ins Zeug gelegt, was das Zeug angeht – die ganze Maskerade da.
Erst hatte er diese Leggins, dann die Klick-Turnschuhe, dann ein rosa Leibchen von der Telekom, so kaputte Handschuhe, wo die Finger vorne raus guckten, und vor allem, und das war ja das Allerschärfste, er hatte jetzt immer so einen schicken Helm auf dem Kopf.
Also nicht so einen richtigen, wie man den vielleicht auf dem Motorrad trägt, sondern mehr so eine Eierpappe in lila mit pink und mit gelben Gurten unterm Kinn.
Wie ein Schiffchen sah das aus – wäre aber untergegangen, weil da waren lauter Löcher drin.
Das ist, damit man da drunter nicht so schwitzt, hat Wernersen mir erklärt, und es wäre außerdem gut für die „Aerodynamik“.
Also. das sah richtig Käse aus.
Ich will nicht „Scheiße“ sagen, weil „Scheiße“ sagt man ja nicht, aber „Käse“ sah das aus, auf jeden Fall.
Und vor allem: Was für ein Quatsch das alles war.
Überleg doch mal, dieses Plastikbrötchen, das hockt da oben, ganz oben auf deiner Schädeldecke drauf, und du machst da jetzt mal einen gepflegten Abgang vom Fahrrad.
Da musst du aber schon verdammt genau zielen, damit du nicht auf die Nase fliegst, oder auf den Bauch, oder sonst wo landest.
Du müsstest quasi senkrecht hoch, dann oben einknicken, weißt du, wie so ein Turmspringer, dann die Arme rechtzeitig am Körper anlegen und nur mit der „Glocke“, oben mit dem Scheitel auf das Kopfsteinpflaster knallen.
Dann nützt das was mit diesem Hut.
Aber sonst doch wohl nicht.
Und, da möchte ich doch mal wissen, bei wie vielen Unfällen denn das wohl so abläuft.
Da müsste man ja erst mal einen Kursus dafür belegen: „Turmspringen ohne Turm“ oder so.
Obwohl, mir könnte das gefallen.
Stell dir mal vor, die Polizei würde jeden Sonntag Nachmittag den Parkplatz von unserem Supermarkt sperren, und alle, die so einen Helm besitzen, kommen dann da zum Training hin.
Alle müssten versuchen, aus dem Stand hoch in die Luft zu springen, um dann mit einem „Köpper“ punktgenau zu landen.
Vielleicht gäbe es sogar eine Jury, die für die eleganteste Landung einen Preis verleiht – und dann, nur wenige Jahre später, gibt es das sogar bei Olympia.
Eine olympische Disziplin, hier in Boddelskoog erfunden, und auch nicht blödsinniger, als alles andere, was die ollen Hellenen sich damals ausgedacht haben.
Ich würde da wohl nicht aktiv dran teilnehmen, aber mit einem Kasten Bier und einem Klappstuhl an einem sonnigen Nachmittag das ganze beobachten, könnte mir wohl Spaß machen.

Hein Wernersen jedenfalls hatte schon jetzt seinen Spaß.
Er donnerte wie ein rosaroter, gelb-grün gestreifter Kugelblitz mit seinem getunten Damenrad über den Deich.
Jeden Morgen, da konntest du die Uhr nach stellen, kam er an mir und meiner „Seniorenbank“ vorbei gezischt.
Sicher, je nach Witterung.
Bei Gegenwind kam er so gegen fünf nach halb, aber mit Rückenwind war er oft schon um zwanzig nach da – kann auch mal dreiundzwanzig gewesen sein.
Jeden Morgen, da konnte das Wetter sein wie es wollte, strampelte mein Kumpel
Hein über die Deichkrone.
Bei Sturm und Regen habe ich ihn dann immer mit dem Feldstecher von meinem Küchenfenster aus beobachtet – Respekt, das muss ich sagen, der ließ sich von nichts beeindrucken.
Nun, eines schönen Tages, das war an einem Freitag im Spätsommer, da kam er nicht.
Obwohl ganz großartiges Wetter war, und nur ein ganz leichter Ostwind wehte.
Ja, was hat er denn?, hab ich bei mir gedacht - vielleicht einen Platten oder so?
Oder vielleicht hatten sie ihn auch engagiert als Werbeträger für sportliche Reizwäsche mit Windeleinlage. Keine Ahnung.
Er kam den ganzen Tag nicht, und am nächsten Tag hab ich auch umsonst gewartet.
Wann war denn das jetzt noch genau, am Freitag?
Nee, Moment, das war am Donnerstag.
Donnerstag kam er nicht, Freitag kam er nicht, am Samstag kam er nicht und am Sonntag kam er auch nicht. So war das.
Böse Merkwürdig, das Ganze.
Im „Anker“ wusste auch keiner was los war, und so hab ich am Sonntagabend mal bei ihm angerufen.
Vielleicht war mein bester Kumpel ja in irgendeiner Not, und da muss man sich logischer Weise ja wohl sofort drum kümmern.
So was duldet keinen Aufschub.

Seine Frau war am Apparat und ich sage: „Moin Henriette, was ist mit deinem Mann denn los, wo ist der, warum fährt der denn nicht mehr mit dem Rad?“

Oh“, sagt sie, „der ist doch im Krankenhaus.“

Was, schon wieder mit der Pumpe?“

Henriette hat gelacht: „ Nee, keine Sorge, ist nichts Schlimmes.“

Wie, nichts Schlimmes?“

Der ist vom Fahrrad gefallen und hat sich den Arm gebrochen.“

Was?“

Ja, der ist vom Fahrrad gefallen, oder besser gesagt, der ist mit dem Fahrrad gefallen. Umgefallen ist er.“

Ich sage: „Was erzählst du denn da für Geschichten? Nu noch mal richtig, bitte. Was ist denn da jetzt genau passiert?“

Ja, also, am Donnerstag wollte er den Deich hoch. Mal gucken, ob er das wohl schafft, weil, das hatte er schon länger geübt. Jeden Tag ein bisschen steiler und noch ein bisschen steiler, mal hoch da. Er wollte das jetzt mal wissen, aber er hatte wohl einen etwas zu großen Gang erwischt, und als er oben auf der Deichkuppe fast angekommen ist, hat er den Halt verloren. Also, das Gleichgewicht hat er verloren, nicht den Halt. Und nun wird das Tragisch.“

Tragisch?“

Tja, seine Füße waren doch festgebunden an diesen Pedalen, diesen neumodischen. Und da hatte er das wohl nicht richtig eingestellt, ein bisschen zu fest, nehme ich an. Kannste dir das vorstellen? Da stand er jetzt da oben, war am zappeln und kriegte die Füße nicht mehr raus. Und ganz langsam aber sicher kippte er dann, wie eine abgesägte Nordmanntanne, nach Steuerbord. Da musste er sich abfangen, und was hat er gemacht? Den rechten Arm hat er raus gehalten.
Da hat das „knack“ gemacht, das Handgelenk war kaputt und mein Gatte lag im Dreck. Zwei Zentner sind zu viel für einen Arm, das hätte er sich eigentlich denken können.“

Und dann?“

Du kennst ja meinen Hein. Der ist mit dem kaputten Arm auf `s Fahrrad gestiegen, nach Hause gefahren und wollte von mir Sportsalbe und eine Mullbinde haben.
Er hätte sich da wohl was „verstaucht“ hat er gemeint, der Spinner.
Wollte sich mit einem Stück Pappe und mit Klebeband selbst eine Schiene machen – ganz egal, Hauptsache nicht ins Krankenhaus.
Seid ihr Kerle eigentlich alle so dämlich?“

Und, was habt ihr dann gemacht?“

Ich habe einfach abgewartet, bis er die Schmerzen nicht mehr aushalten konnte und mir gnädig erlaubt hat, ihn ins Hospital zu bringen.
Da haben sie ihn dann untersucht und gleich auf Station gebracht.
Morgen, am Montag, wird er operiert.“

Ach was.“

Ja, Montag früh um zehn, haben die gesagt, geht das los.
Das ist alles wohl doch ein bisschen komplizierter mit dem Bruch.
Da gibt es sogar einen speziellen Namen für, hat mir der Herr Doktor erzählt. Das ist eine „Chauffeurs – Fraktur“.

Was für eine Fraktur?“

Das ist, hat der Doktor gesagt, früher immer bei den Chauffeuren passiert.
Wenn die mit der Kurbel die Autos anschmeißen wollten, dann hat manchmal die Kurbel zurückgeschlagen – und zwar genau auf die gleiche Stelle, die auch bei meinem Hein jetzt kaputt ist.“

Ach du Schande“, hab ich gesagt, „na denn grüß ihn mal schön. dann werden wir mal sehen, ob ich ihn nicht vielleicht auch mal besuche oder so.“

Da wird er sich freuen, aber das brauchst du morgen noch nicht machen.
Lieber erst übermorgen, oder am Mittwoch. Weil, der kriegt ja Vollnarkose.
Nachher erkennt er dich vielleicht gar nicht und denn hast du den ganzen Weg umsonst gemacht.“

Ich war echt schockiert.

Am Montag sitze ich wieder auf meiner Seniorenbank. Ich lasse den Blick übers Wattenmeer schweifen und denke: Das ist doch wirklich mal schade drum.
Da wird so ein junges Talent, wie Hein Wernersen, dahingerafft von so einer blödsinnigen Bindung da unten am Fuß.
Kannst doch wirklich vergessen, die ganze Chinesentechnik.
Ich sinniere so vor mich hin, da setzt sich auf einmal einer neben mich.
Hein Wernersen in voller Lebensgröße.
Hat den Arm zwar eingegipst, aber die ganze Radlermontur hat er an – von dem Rad war allerdings nichts zu sehen.

Ich sag: „Was willst du den hier, ich denke, du bist im Krankenhaus?“

Ja“, sagt er, „das war ich ja auch.“

Und nu?“

Die haben sich vertan.“

Vertan?“

Ja, du glaubst das nicht. Am Freitag haben sie den Arm geröntgt, mich durch die Coputertomografie geschickt und all so was.
Dann haben sie mir Blut abgenommen und waren sich am ende dann ganz sicher:
Das muss gleich am Montag operiert werden.
Am Sonntagabend kam der Narkosedoktor an und hat mich erst mal angeschissen, weil ich nicht auf meinem Zimmer gewesen bin.
Ich war eine rauchen, ist doch logisch, was soll man denn auch sonst wohl machen, im Krankenhaus, den ganzen Tag?
Er hat mir dann erklärt, dass die Operation reine Routine wäre und ganz harmlos.
Ich sollte aber trotzdem mal eben einen Zettel unterschreiben, nur für den Fall, dass ich vielleicht doch „weg bleiben“ würde. Damit dann alle wissen, dass er und seine Kumpels da keine Schuld dran haben, und meine Witwe keinen Aufstand macht … das kannte ich ja schon.
Ab Sonntagabend um zehn durfte ich dann auch nichts mehr zu mir nehmen.
Ich sollte „nüchtern“ bleiben, und Frühstück am Montagmorgen würde auch ausfallen, hat er gemeint.
Nicht mal Wasser durfte ich trinken, wegen dem „Marilyn Monroe Effekt“.

Wegen was?“

Das ist, wenn einer während der Narkose kotzen muss und daran dann erstickt. Da sind die ganz humorvoll, die Doktores.“

Und dann?“

Na ich bin ja kein ängstlicher Typ, das weißt du ja, aber gut geschlafen hab ich trotzdem nicht – muss wohl an der harten Matratze gelegen haben, oder am Heimweh. Heute Morgen haben sie mich so gegen halb sieben aus dem Bett geschmissen, um mir die Kissen aufzuschütteln.
Überall roch das so fein nach Kaffee und Brötchen, au Mann hatte ich einen Schmacht.
Dann kam die wachhabende Oberschwester, Schwester Hannelore, und hat mir so ein OP – Leibchen angezogen. So eins mit hinten offen, wo das immer so unangenehm rein zieht.
Das war ja schon leicht albern, aber damit hatte sie ihr Pulver noch lange nicht verschossen.“

Sag bloß.“

Was du wohl glaubst. Jetzt wurde das richtig erotisch.“

Mit Oberschwester Hannelore?“

Oh ja, man könnte das sogar schon fast „sexy“ nennen.“

Erzähl, was war.“


Sie hat ein paar lange, weiße Gummistrümpfe hervor gezaubert und mir die über die Füße massiert, die Beine hoch, bis fast an den Schambereich ran.
Ich muss ausgesehen haben, wie Gina Wild mit Bierbauch.“

Nicht schlecht“, hab ich gesagt, auch wenn mir diese Vorstellung nicht wirklich „erotisch“ vorkommen wollte. Wer ist Gina Wild?

Hein Wernersen lächelte in sich rein: „Das ist gut für die „Kompression“, hat die Schwester mir erklärt, damit man keine Thrombose in den Beinen kriegt.
Dabei wollte ich doch gar nicht mit dem Flieger weg.
So lag ich dann da, in diesen Gummistrümpfen und meinem kurzen Hemd.
Gegen zehn vor zehn, ich hatte gerade so eine „Scheißegal – Pille“ eingeworfen und dachte an Marilyn Monroe, da geht die Tür auf und der Chefarzt kommt rein.

Guten Morgen Herr Wernersen“, hat er gesagt, „Sie sind ja schon aufgewacht und ausgehfertig.“ Dann hat er einen Blick in meine Akte geworfen und gemeint: „ Gut, wenn Sie wollen, dann können wir auch gleich loslegen.“

Wie, wenn ich will?“

Er zuckt mit den Schultern: „Wir müssen nicht unbedingt operieren.
Wie ich das hier so sehe, könnten Sie auch einfach nur einen Gips bekommen.
Aber dann müssten wir wenigstens sechs Wochen warten, bis alles wieder verheilt ist.
Und den OP hätten wir dann ja auch ganz umsonst vorbereitet. Die Krankenkasse sieht so was natürlich lieber, aber wenn Sie auf den Eingriff bestehen, können die da eigentlich nicht viel machen.“

Als ob ich auf so was bestehen würde.
Nein, Herr Doktor, darauf bestehe ich in keinster Weise, auch wenn Sie bestimmt einen ganz besonders hübschen Operationssaal haben.
Ich ziehe es trotzdem vor, mit einem einfachen Gipsarm sofort ihr sympathisches Krankenhaus zu verlassen“, das wollte ich sagen, aber irgendwas war wohl mit dieser Pille, die ich genommen hatte, nicht in Ordnung gewesen.
Mein Mund war mit einem mal so trocken, dass ich kaum noch einen Ton herausbringen konnte.

Giaammmmmhmmmm …“, das war alles.“

Wie bitte?“

Giibsaaaam, nahauegeehn …“ meine Zunge war ein dickes, angeschwollenes Ding in meiner Kehle.


Ich habe Sie zwar nicht ganz verstanden, Herr Wernersen, aber wir können Sie gern sofort hinüber fahren.“

Heimheim! Heime oh hee.“
Es war, als ob eine feuchter Hamster in meiner Mundhöhle hockte.
Ich musste unbedingt was trinken.

Wenn Sie möchten, ist alles in ein paar Minuten für Sie bereit Herr ...“

Ich versuchte, die Flasche mit dem Wasser auf meinem Nachttisch zu erreichen.

Heimheim! Heie Ohehahion.“

In meinen Wangen krabbelten tausend Ameisen und meine Lippen kamen mir so dick vor, wie die von einem Jazztrompeter.

Herr Wernersen, Sie brauchen keine Angst zu haben, es sind hier nur Fachleute am Werk. Selbst mein Narkosearzt ist heute so nüchtern und ausgeschlafen, wie selten.“

Heim … heim … heim!“ Ich rudere mit den Armen, die Wasserflasche schlittert über den Nachttisch und zerplatzt auf dem Linoleum.
Eine ziemliche Schweinerei.

Der Doktor hüpft beiseite: „Aber Herr Wernersen, was machen Sie denn?“

Die Tür zu meinem Zimmer fliegt auf, es ist die Oberschwester: „Was ist denn hier los?“

Ich habe keine Ahnung, ich habe mich nur nett mit dem Patienten unterhalten, habe ihm vorgeschlagen, dass …“, sagt der Oberarzt.

Mein Gesicht ist eine gefühllose, lauwarme Masse und mein Schädel ein kalter Zylinder von drei Metern Höhe.

Sagen Sie was!“ herrscht mich die Schwester an.

Ich versuche es so gut ich kann: „Hammnh?“ Ich weiß selbst nicht, was das bedeuten soll.
Sie schubst den Herrn Professor beiseite, stapft auf mich zu, greift mein linkes Handgelenk und ihr Daumen drückt mein rechtes Augenlid in die Höhe.
Ihr Gesicht ist ein verzerrter Pfannkuchen mit schwarzer Hornbrille.

Allergisch!“ sagt sie, „verdammt, der ist allergisch, der blöde Hund. Es würde passieren, das habe ich gestern noch gesagt, oder, Herr Doktor? Ich habe es gesagt, aber auf mich hört ja keiner. Nur, weil hier niemand den Beipackzettel liest und nicht den Apotheker fragt, wenn das Verfallsdatum abgelaufen ist – jetzt haben wir den Salat.“

Meine Arme fühlen sich inzwischen an, wie dünne, kalte Drähte und von meinen Beinen hab ich auch schon länger nichts gehört.
Schwester Hannelore macht auf dem Absatz ihrer Gesundheitslatschen kehrt, stürmt aus dem Zimmer und kommt einen Wimpernschlag später mit einer recht ansehnlichen Spritze zurück.

Jetzt aber schnell, jetzt aber schnell“, höre ich sie flüstern, dann sticht sie die Nadel irgendwo in meinen linken Arm.
Bei meiner allgemeinen Taubheit kann ich die Einstichstelle erst gar nicht richtig lokalisieren, aber schon nach wenigen Sekunden ändert sich das.
Da, wo sie das Gegenmittel eingespritzt hat, beginnt es zu brennen.
Erst ist es nur wie ein glühender Streichholzkopf, aber die Stelle wird schnell größer.
Sie wird so groß, wie die Glut einer Zigarette, dann wie die Glutspitze einer echten Havanna, dann so groß wie ein Brandeisen, mit dem man Kälber markiert.
Der Schmerz zerplatzt, wie eine Feuerwerksrakete, zerfasert, fließt wie dünne Lavaströme bis in meine Fingerspitzen, aber gleichzeitig auch aufwärts durch meine Schulter, den Hals rauf, über mein Gesicht bis unter die Schädeldecke, und ich könnte schwören, es hat nach verbrannten Haaren gerochen.
Die Lava kroch unaufhaltsam durch meine Adern.
Sie erfasste meinen rechten Arm,überquerte den Brustkorb, arbeitete sich abwärts und kam, nach gefühlten sechs Wochen, in meinen Zehenspitzen an.
Es glühte und pulsierte noch überall in mir, aber Schwester Hannelore hatte wohl trotzdem das richtige Mittelchen erwischt, denn meine Zunge schwoll ab, und ich konnte wieder sprechen.

Aua, Verdammt!“ hab ich sie angebrüllt, „Was treibt ihr hier eigentlich mit mir? Ich bin doch nicht euer Versuchskarnickel.“

Der Chefarzt kam näher: „Ah, Herr Wernersen, ich sehe es geht Ihnen wieder gut.
Wie schön, dann können wir Sie ja gleich in den OP bringen. Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit, hier herumzualbern. Nicht wahr, Schwester Hannelore … hahaha.“

Ich will keine Operation“, meine Stimme war schon wieder fast wie früher.

Wie bitte?“

Nee, Herr Doktor, wenn das nicht unbedingt sein muss, dann will ich das lieber nicht.“

Aber Herr Wernersen, ich dachte, wir wären uns einig, dass Sie sich für den Eingriff entschieden haben.“

Einig“, sag ich, „wer ist sich hier einig? Ich will keine OP, keine Beruhigungsmittel, keine allergischen Reaktionen und auch keinen „Marilyn Monroe“ Effekt.“

Aber mein lieber Herr Wernersen“, der Doktor hat mich angesehen, wie der Pastor eine verirrte Seele, „dieser sogenannte Effekt ist doch nur ein Ammenmärchen, den gibt es in Wirklichkeit doch gar nicht. Und was Ihre unbedeutende Reaktion von vorhin angeht, so ist das nur auf das überalterte Medikament zurückzuführen, ein bedauerliches Versehen. Das Mittel hätte eigentlich schon längst als humanitäre Hilfe auf dem Weg nach Afrika sein sollen. Sie würden jetzt natürlich ganz frische Medikamente bekommen, das garantiere ich. Einige sind noch nicht einmal richtig zugelassen …“

Ich will den Gips, dann will ich Frühstück und dann hätte ich gerne ein Taxi nach Boddelskoog, wenn das keine Umstände macht.“

Wenn das Ihr letztes Wort ist ...“, der Doktor hat die Unterlippe vor geschoben, dann ließ er die Schultern hängen und sah genauso enttäuscht aus, wie ein Dobermann, dem man das Kätzchen nicht gönnt.

Das ist mein letztes Wort“, hab ich gesagt, „ mein allerletztes.“

Da hat dann die Schwester Hannelore den traurigen, kleinen Doktor an ihren ausladenden Busen gedrückt und ist mit ihm raus gegangen.
Wahrscheinlich hat sie ihm in der Kantine zum Trost ein Erdbeereis gekauft.“

Hein Wernersen grinste: „Siehst du, Janek, so ungefähr war das, und deshalb bin jetzt hier.“

Meine Güte“, sage ich und kann mir einen anerkennenden Pfiff durch meine Zahnlücke nicht verkneifen, „da hast aber nochmal Schwein gehabt.“


Das kannst du wohl so sehen. Ich bin dem dem Onkel Doktor sozusagen gerade nochmal von der Schippe gesprungen.“

Ja, Mensch“, sag ich, „kann ich denn vielleicht was für dich tun? Willst du eine rauchen, willst du ein Bier? Soll ich dir `ne Pommes mit Mayo oder ein Fischbrötchen von der Bude holen? Ich meine, nach dem ganzen Stress, bist du doch wohl völlig ausgehungert.“

Nee, Jan, das brauchst du nicht. Ne Dose Bier könnte ich allerdings wohl vertragen.“

Klar, natürlich, kannst du haben. Ich habe ja immer reichlich davon am Mann. Ich warte ja auch schon die ganze Zeit, dass du vorbei kommst und mal wieder vernünftig wirst und dich ein bisschen hier zu mir her setzt.“

Da sieht er mich so komisch an, so ganz ernst, und sagt:

Janek, ich glaube, das war`s.“

Wie, was soll das denn heißen?“ ich reiße die Dose auf und reiche sie ihm rüber.

Danke. Ja, sieh dir das doch an, ich kann jetzt nichts mehr machen. Nun hab ich die Hand in Gips. So kann ich nicht mehr Rad fahren, aber das muss ich ja. Wegen der ganzen Innereien, und damit ich nicht wieder … also, ... damit ich …“

Hör auf zu stottern“, sag ich, „was ist denn los?

Da macht der völlig den Klappstuhl, da neben mir, fällt irgendwie so ein, kriegt ganz schmale Schultern und dann sagt er:

Nu bin ich tot.“

Was?“

Ja, nun ist das aus mit mir.“

Wieso bist du denn tot? Du sitzt doch hier, was soll der Quatsch?“

Nee“, sagt er, „das Problem ist anders, das kannst du auch nicht wissen ...“

Was ist anders?“

Janek“, sagt er, „ ich bin … ich bin ein Cyborg.“

Ein „was“ bist du?“

Ich bin ein Cyborg.“

Und was soll das sein?“

Das ist so halb Mensch und halb Maschine, hast du das noch
nie im Fernsehen gesehen?“

Wieso bist du denn jetzt auf einmal halb Maschine und halb Mensch? Haben dich die Aliens erwischt?“

Nee Jan, sieh mal, ich war immer ein Mensch. So ganz natürlich mit allem Drum und Dran. Alles an mir war „natürlichen Ursprungs“ könnte man sagen. Aber damals, als diese Arterie dicht gegangen ist, und die angefangen haben an mir rum zu pfuschen … Weißt du, da haben sie die Ader künstlich erweitert – das war ja noch nicht so schlimm, aber dann haben sie dieses Ding da eingesetzt, dieses Röhrchen.“

Ja und?“

Was heißt „ja und“, davon hängt jetzt mein ganzes Leben ab.“

Wovon hängt die Leben ab?“

Von diesem Röhrchen, Janek, das sorgt dafür, dass meine Pumpe Blut kriegt. Das ist so ein Stück Irgendwas – Metall vielleicht, oder Kunststoff. Denk mal, das rostet oder oxidiert, das kann doch sein, dass das rostet. Oder, das hat vielleicht eine raue Oberfläche und dann setzt sich da der Dreck ab, wie bei so einem Abflussrohr. Wenn das alt wird, das Abflussrohr, dann wird das doch auch rau, und der ganze Dreck bleibt da dran hängen. Irgendwann ist das zu, dann geht da gar nichts mehr und dann läuft der Lokus über. In meinem Fall heißt das, ich falle einfach irgendwo um.“

Du fällst einfach um?“

Hein Wernersen nippte an seinem Bier:
Ja, die haben mir damals einen ganzen Sack voll Medizin mitgegeben, und ich hab mir erst mal die Gebrauchsanweisungen durchgelesen, bevor ich da was von genommen habe. Das ist echt unglaublich. Da steht überall drin: Wenn sie unser Mittel nehmen, kann das ganz üble Folgen haben. Ich übersetzt das Geschwafel von denen mal ganz frei. Gleichzeitig sagen sie: Wenn du das Zeug nicht nimmst, dann geht das in jedem Fall in die Hose. Also, du kannst machen, was du willst. Nimmst du das, gehst du drauf. Nimmst du das nicht, gehst du auch drauf. Schuld hast du auf jeden Fall immer selbst, das ist doch mal fein, oder?

Ja“, sag ich, „ das ist schon ein heftiger Verein da.“

Weißt du, Janek, worüber ich dann mal nachgedacht hab?“

Nee.“

Sieh mal, das mit den ganzen Medikamenten hat doch einen Sinn. Das hat bestimmt damit zu tun, dass das Implantat nicht ganz koscher ist – weil, die müssen ja auch sparen. Die können ja nicht einfach einen Haufen Geld für mich ausgeben, da bleibt sonst ja nichts für den neuen Porsche übrig. Also werden sie diese Röhrchen irgendwo günstig einkaufen. Vielleicht in China, oder in der Mongolei oder in Süd - Timbuktu, was weiß ich. Ich habe von Leuten gehört, denen haben sie fünf oder zehn Stück davon implantiert. Und warum?“

Keine Ahnung.“

Ist doch klar: weil die Dinger nichts taugen, weil die immer wieder dicht gehen. Und dann heißt es eben: Macht nichts, ist alles halb so schlimm, wir haben ja noch welche davon. Made in Mali.“
Hein Wernersen steckte sich eine Zigarette an und schüttelte den Kopf:
Du gehst abends ins Bett und morgens wachst du auf und bist tot. Nur weil der Billig – Kram nichts getaugt hat. Weißt du, du hast deine alte Vene fünfzig Jahre und sie macht, was eine Vene so tut. Was weiß ich, was sie wirklich macht,aber sie macht ihren Job. Bis zu dem Tag an dem dann so was passiert – und dann?
Dann sagen sie, dass sie das ganz wunderbar wieder hinkriegen können und bauen dir da so einen Schrott ein. Und, hast du da etwa Garantie drauf? Kannst du dann sagen: Hallo Leute, ich bin da grade letzte Nacht verstorben. Euer Implantat hat wohl nicht richtig funktioniert, kann ich das vielleicht mal reklamieren hier?
Da schütteln die dann mit dem Kopf, weil, das kannst du nicht reklamieren, da hast du keine Garantie drauf – da hast du gar nichts drauf. Das hast du schließlich vorher unterschrieben.
Auf jeden billigen Toaster aus Korea hast du zwei Jahre Gewährleistung. Wenn der sich vorzeitig verabschieden sollte, dann gehst du zum Händler deines Vertrauens, legst die Quittung auf den Tisch und bekommst das Gerät ersetzt. Aber mit dieser ganzen Medizintechnik?
Da heißt es nur: Sie haben bestimmt ihre Tabletten nicht richtig eingenommen, da haben sie dann ja wohl selber Schuld
Wenn du aber, wie ich ja schon gesagt habe, gelesen hast, was du von dieser sogenannten Medizin alles kriegen kannst, dann nimmst du die nicht mehr. Da hast du dann vielleicht die Röhre wieder frei, aber ansonsten wirst wirst du blöd im Kopp, oder blind, oder dir faulen die Klötze weg. Das kannst du doch nicht riskieren, oder?“

Nee“,sag ich, „das kannst du nicht.“

Siehst du, und da hab ich hin und her überlegt, und mich gefragt: was machst du denn jetzt mal? Und dann hab ich gedacht: Bewegung.
Bewegung ist gut, weil das Blut dann immer so schön hin ind her fließt, und dann reinigt sich das dadurch auch alles wieder von selber. Dann braucht man keine Panik mehr vor so einer Verstopfung haben.
Was glaubst du denn, warum ich wohl sonst den ganzen Zauber veranstaltet habe mit dem Fahrradfahren und so. Glaubst du, ich hab da Lust zu? Da hab ich ganz genau so wenig Lust zu wie du, das kannst du mir glauben. Diese ganze Fahrradfahrerei, und jetzt hab ich mir auch noch so Fischölkapseln und Artischockenherzen Extrakt von dieser Klosterfrau da gekauft. So was macht man doch nicht, weil man da Lust zu hat, das machst du doch nur, wenn du denkst, du musst das.“

Ja“, sag ich, „das stimmt. Und nu?“

Nix is, nu kann ich das nicht mehr. Jetzt ist das Fahrrad endlich fertig, und jetzt hab ich hier den Gipsarm, da kannst du nicht mir Fahrrad fahren. Da fällst du nachher zur anderen Seite und brichst dir „Oberschenkel - Hals“.
Da weißt du ja wohl, was das heißt.“

Ja“, sag ich, „das hatte meine Tante Meta auch. Ist im Badezimmer ausgerutscht. Armes Mädchen.“

Was richtig schlimm ist, Janek, das hat mit dem gebrochenen Arm gar nichts zu tun. Das spielt sich alles hier oben ab.“ Er tippt sich an die Stirn: „ Ich weiß auf einmal Sachen, die wollte ich vorher gar nicht wissen.“

Was denn für Sachen?“

Ich weiß jetzt, dass jeder und alles, was lebendig ist, irgendwann stirbt.“

Ja“, sag ich, „das weiß ich auch. Irgendwann ...“

Nee, Janek, nee. „Irgendwann“ heißt nicht: irgend - wann in einer anderen Zeit, irgend – wo an einem anderen Ort. Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht ist „Irgendwann“ ja auch schon gleich.“

Ach was, wieso denn „gleich“? Was soll der Quatsch, hör doch auf.“

Nee, ich hör nicht auf. „Irgendwann“ heißt: „Jetzt“, „gleich“, „nächste Woche“, „nächstes Jahr“, weiß der Kuckuck.
Man weiß das nicht, und man denkt da auch nicht drüber nach.
Du sitzt hier rum und denkst, du hast ewig Zeit, hast du aber nicht.“

Ach Hein, was soll denn das? Trink dein Bier, rauch` eine, oder mach von mir aus Kniebeugen, aber laber mich doch hier nicht mir so was voll.“

Hör zu Janek, ich war letztens auf dem Bahnhof und da war ein Automat. Kennst du diese Automaten, wo so Gummibärchen drin sind und Bifi und Getränke und allerhand andere Süßigkeiten?“

Ja klar.“

Also, pass auf, da stehen diese Tüten mit den ganzen Sachen. Die stehen da vorne an der Kante und werden von so einer Spirale fest gehalten.
Wenn du jetzt Geld einwirfst und eine Nummer wählst, dann dreht sich diese Spirale und gibt eine von den Tüten frei. Irgendeine. Die fällt dann in den Schacht und ist weg. Die anderen Tüten sehen da hinterher und sind erschrocken oder vielleicht ganz traurig, oder bestürzt.“

Was? Die Tüten sind „bestürzt“?“

Kann doch sein. Manch eine ist froh, dass es sie selbst nicht erwischt hat, aber den meisten anderen ist es eigentlich ziemlich egal, sie betrifft das alles nicht.
So ist das mit uns auch.“

Moment mal“, sag ich, „was hast du mir hier eigentlich zu erzählen.
Ich verstehe kein Wort.“

Janek“, sagt er, „Alter, du stirbst.“

Ach was, mir fehlt doch nichts.“

Doch, alles, was lebt, stirbt. Du und ich, alle Leute, die du kennst, dein Hund, deine Katze – ganz egal. Alles, was jemals geboren oder gewachsen ist, das stirbt auch wieder.“

Ja und? Das ist doch alles nichts Neues, das weiß ich doch.“

Tja Jan, das hat aber wie bei dem Automaten einen bösen Trick – es geht nämlich nicht nach der Reihe.
Du kannst nicht sagen: O:K:, wenn ich mal achtzig oder so bin, dann habe ich sowieso keine Lust mehr und dann kann ich hier auch verschwinden.
Das denkst du, aber da stimmt nichts von.
Sieh mal, du bist fünfzig, aber es gibt Leute, die sind gestorben, da waren sie siebzehn, achtzehn, neunzehn. Manche waren erst zwölf, manche fünfundzwanzig, manche fünfunddreißig. Die sind alle nicht so alt geworden, wie du heute bist.“

Die waren dann eben krank oder hatten einen Unfall oder so.“

Ja und? Das ist wie in diesem Automaten, du weißt nicht, wann du dran bist. Du denkst, das kann doch gar nicht sein, vor mir kommen doch erst noch die Gummibärchen und dann kommen die Lakritzschnecken oder Heinz Piepenbrock – aber etwas hat auf deinen Knopf gedrückt und das war´s dann.
Und es ist ganz egal, was es war.
Das kann ein Unfall sein. Da kann aber auch, wie bei mir, einfach so eine Arterie dicht gehen und denn kommt kein Blut mehr an.
Gründe gibt es viele, aber das Ergebnis ist das Gleiche:
Feierabend – weg von der Welt.“

Wech vonne Welt, einfach so? Das is doch Quatsch.“

Nee, das ist kein Quatsch, Janek. Es kann sogar sein, dass diese olle Röhre in meiner Arterie zwar Made in China ist, aber die haben sich ausnahmsweise richtig Mühe gegeben. Das Ding hält noch wer weiß wie lange. Kann sein, ich bin demnächst achtzig oder fünfundachtzig und bin immer noch hier, aber du bist dann schon lange nicht mehr bei uns. Weil du nämlich übermorgen besoffen ins Hafenbecken fällst und den Löffel abgibst.
Darum geht das, mein Freund, darum geht das.“

Ach, hör auf“, sag ich, „hör doch auf, was erzählst du denn.
Du hast dir da doch so eine „Trauma“ in der Klinik eingefangen.
Weißt du, was dein Problem ist?“

Nein, weiß ich nicht“

Ich sag: „Du quälst dich nur hier rum mir diesen Sachen, weil du das Prinzip nicht verstanden hast.“

Was denn für ein Prinzip?“

Sieh mal, das einzige Problem, was du hast ist, dass du kein Jonathan bist.“

Dass ich was nicht bin?“

Ja, guck mal da oben.“

Was ist denn ein „Jonathan“?“

Ein Jonathan oder eine Emma.“

Du meinst eine Möwe?“

Genau.“

Was habe ich denn mit einer Möwe zu tun?“

Ja, eben nichts. Und genau das ist dein Problem.“

Wie?“

Meine Güte“,sage ich, „ eine Möwe, die kriecht aus ihrem Ei raus und hat keine Ahnung, wer oder was sie ist. Bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter meint, dass das gute Kind wohl alt genug ist und ihm einen Schubs gibt.
Der kleine „Jonathan“ wird sich sicher zuerst erschrecken, aber er wird, wenn er sich nicht zu lange wundert, seine Flügel ausbreiten und los fliegen.
Dann weiß er, wer er ist und beschäftigt sich von da an nur noch damit eine Möwe zu sein. Der macht sich ansonsten doch keinen Kopp mehr um nichts.
Flattert hier rum, beschäftigt sich mir Kurven fliegen, rauf und runter, klaut Heringe und was er nur finden kann, haut sich mir den anderen Möwen, kackt auf die Touristen und macht alles Mögliche, aber er hat nie ein Problem damit, eine Möwe zu sein.
Wenn ein Sturm aufzieht, dann sind das die Einzigen, die sich darauf freuen.
Alle anderen ziehen die Ohren ein, verbarrikadieren sich und bringen sich in Sicherheit, aber die Möwen steigen auf und sagen: Los Unwetter, komm! Los, damit wir mal ein bisschen Spaß haben.
So, und wenn das da oben richtig zur Sache geht, wenn das donnert und blitzt und wir uns hier unten beinahe in die Hose machen wegen der Sturmflut, dann geben die Gas, die Burschen. Dann ballern die durch die Gegend wie die Blöden, haben Spaß ohne Ende und lachen sich tot über uns.
So, und eines Tages sitzt unser Jonathan auf seinem Poller, macht die Augen zu und fällt runter ins Brackwasser.“

Und, was soll mir das jetzt sagen?“

Ich sag: „Dein Problem ist, dass du nicht weißt, wer du bist. So eine Möwe, die weiß das. Eine Möwe weiß, dass sie eine Möwe ist. Und so lange wie sie da ist, macht sie, was sie tut. Und wenn Schicht ist, ist Schicht. Nicht mehr und nicht weniger.
Du musst einfach nur rausfinden, wer und was du bist.
Was du kannst, was dein Ding ist, weißt du.
Und wenn du das rausgefunden hast, dann machst du das, bis einer sagt: „Feierabend“.
Und wenn einer auf den Knopf drückt und du bist dran, dann bist du eben dran.
Dann war es das eben – fertig aus.
Aber nicht der ganze Dreck mit der Angst und so.
Die haben keine Angst, die Möwen.
Die fliegen heute und sie fliegen morgen, und wenn sie übermorgen nicht mehr fliegen, dann ist das auch in Ordnung.
Die wissen, was sie sind und tun, was sie sind. Dein Problem ist, dass du das eben nicht weißt. Kannst du besonders gut singen?“

Singen? Nee, glaub ich nicht.“

Kannst du tanzen?“

Hab ich nie probiert.“

Dann kannst du vielleicht Geschichten erzählen?“

Geschichten, so wie du?“

Nein“, sag ich, „nicht wie ich. Bessere, richtig gute Geschichten, meine ich.“

Woher soll ich das wissen.“

Siehst du“, sage ich, „du weißt nicht, wer du bist.
Und weil du das nicht weißt, machst du nicht, was du bist.
Alles was du tust, ist grübeln und Schiss haben, und das ist völlig grund-verkehrt.
Damit versaust du dir doch den ganzen Tag. Und der ist ja vielleicht tatsächlich dein Letzter gewesen.“


Die Möwe war gerade von See gekommen.
Sie hatte der „Luise“, einem Fischkutter, eine ganz ordentliche Menge Hering geklaut und war eigentlich recht fröhlich.
Dann sah sie unter sich diese beiden Burschen auf der Bank sitzen und ihre gute Laune war wie weggeweht. Das ist doch nicht zu fassen, dachte sie.
Das kann doch wohl nicht angehen.
Da hängen sie wieder rum, diese blöden „Hilfsphilosophen“.
Trinken billiges Bier und erzählen sich allerhand Geschichten von Gott und der Welt und haben keine Ahnung von gar nicht.
Und, siehst du, jetzt zeigen sie zu mir hoch und nennen mich bestimmt wieder „Jonathan“ oder „Emma“, die Schlaumeier.
Sie reden gerne von uns.
Was die Möwen so alles können, und was sie alles nicht können.
Was die Möwen so alles tun und was die Möwen alles lassen.
Wie wunderbar frei und selbstbestimmt wir sind.
Ach, und wer von uns hat hier die Euros in der Tasche und kann sich unten am Stand ein Fischbrötchen kaufen?
Ich hab ja noch nicht mal Hosentaschen, ihr Penner!
Da kommt einem doch wirklich der Hering hoch, wenn du das siehst.

Die Möwe, die weder Jonathan noch Emma hieß, wurde richtig sauer.
Sie stieß senkrecht runter, gab ordentlich Gas und schoss direkt auf unsere Beiden zu.
Im letzten Moment drehte sie ab und drückte, was das Zeug hielt.
Der Schiss ging an den Jungs gerade mal so dreißig Zentimeter vorbei.


J.H.