Der Cyborg
Seit neuestem steht bei uns auf dem Deich eine Bank.
Was heißt seit neuestem, eigentlich steht die da schon seit Anfang letzten Jahres.
Im Andenken an Kapitän Harmsen, wegen der Geschichte mit den Nacktfischen.
Hab ich davon eigentlich schon erzählt?
Die „Nacktfische vor Boddelskoog“ - nicht?
Ja, das ist eine interessante Story.
Die gibt es dann bei passender Gelegenheit, aber heute nicht.
Die Bank hatte unsere Volkssparkasse gesponsert.
Ich nehme stark an, dass die nur ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie immer so knauserig mit den Zinsen sind.
Und, sie hatten sicher auch wieder gut gezockt mit unseren Spareinlagen - an der Börse, wie das bei denen so üblich ist.
Klar, das streiten sie immer ab, aber man weiß ja trotzdem, wo der Hase langläuft.
Wenn man von hinterm Deich kommt, schon mal sowieso.
Die Bank war eigentlich, das hatte der Sparkassen-Obermacker bei der Einweihung gesagt, für die ältere Generation von Boddelskoog bestimmt, damit man denn wohl an seinen letzten Tagen die Sonnenuntergänge auch immer richtig schön betrachten kann.
Blöd ist nur, bei uns gibt das gar nicht so viele, die jetzt schon damit anfangen wollen, sich ihre „letzten“ Sonnenuntergänge anzusehen.
Alt genug dazu wäre wohl der olle Erwin Petermann, aber der ist Vegetarier und lebt nur aus dem Reformhaus. So einer kann so alt werden wie ne Riesenschildkröte von Galapagos.
Und Heinz Piepenbrock, aber Heinz Piepenbrock ist mit seinen dreiundachtzig-einhalb noch so gut beisammen, den muss der Sensenmann schon mit einer Plattschaufel erlegen.
Die beiden setzen sich garantiert auf keine „Seniorenbank“.
Obwohl, ich muss zugeben, man sitzt da eigentlich recht gut.
Man kann von da aus sehr angenehm nachsehen, ob das Watt denn noch da ist, oder das Wasser, und man kann sich da auch fein verabreden.
Da triffst du dann, zum Beispiel am späten Vormittag, deine Kumpels auf ne Dose Hansa Pils. Kann natürlich auch ein Herforder sein, das ist denn ja Geschmackssache.
Ich bin da immer pünktlich so gegen 10 Uhr 25.
Weil dann meine Liebste zu Hause mit dem Staubsauger um die Ecke kommt, und das kann ich ja nun gar nicht ab.
Dann muss ich mich eiligst verkrümeln, aber im Leuchtturm kannst du das natürlich vergessen, da dröhnt der alte Hoover, als ob ein B-52-Bomber über dir kreist.
Was bleibt einem also übrig, als ein bis zwei Bierchen in die Jackentasche zu stecken und den Deich zu erklimmen.
Da ist Ruhe.
Ich saß da immer zusammen mit meinem Kumpel Hein Wernersen.
Wir hatten so eine Art „Notgemeinschaft“ gegründet, weil seine Henriette macht um diese Zeit ja auch immer die Bude sauber.
Und dann bölkt sie da was rum, von wegen: „Zieh die Schuhe aus.“ und „Geh da weg, du bist im Weg“ und so.
Da macht man sich doch am besten vom Acker.
Nun, wir versammelten uns da immer morgens so gegen halb elf, auch deshalb, weil man sich um diese Zeit ja schon mit gutem Gewissen ein Schlückchen genehmigen kann. Da ist der halbe Tag schon fast rum – wird ja beinahe schon wieder dunkel.
So saßen wir also immer in schönster Eintracht, bis … ja, bis zu dem Tag, an dem Hein Wernersen diese Herzgeschichte hatte.
Das war, wie soll ich sagen, so eine Verengung von der Hauptarterie.
Die haben sie ihm im Krankenhaus dann wieder gangbar gemacht, mit einem Katheter, und dann so ein Ding da eingesetzt.
Da hab ich aber ja schon ganz ausführlich mal woanders von berichtet.
Nur, seit dem, … seit dem hatte ich die Bank für mich alleine.
Gleich, nachdem er diesen Eingriff gehabt hatte, war nichts mehr wie vorher.
Ich saß einen Tag nach seiner Entlassung da oben, pünktlich wie immer, und denke: Na, kommt der Hein denn wohl auch, oder kommt der wohl nicht?
Da seh ich auf einmal so einen kleinen Punkt ganz hinten am Horizont.
Der Punkt wird größer und immer größer, und dann stellt sich raus: Das ist tatsächlich Hein Wernersen. Auf dem alten Damenrad von seiner Henriette!
Da kam er denn da ange... naja, „angeschossen“ kann man so nicht sagen, weil so schnell war das ja damals noch nicht, aber er kam auf jeden Fall angefahren.
Er strampelte an mir vorbei und schwitzte und keuchte.
Hat kurz gegrüßt, aber angehalten hat er nicht.
Ja, hab ich gedacht, was ist denn mit dem los, hat der sein Auto kaputt?
So was kann ja mal sein, aber dann hätte er auch ruhig mal einen Ton sagen können; ich hätte ihn doch gefahren, das wäre doch kein Problem gewesen.
Dann tauchte er auch gar nicht wieder auf, an diesem Tag und am nächsten gab es das gleiche Spiel wieder von vorne.
Ich war wieder pünktlich.
Um 10 Uhr 20 hab ich meinen Posten bezogen, wie sich das gehört.
Der Himmel war wie blankgeputzt und die Sonne glitzerte auf dem Wattenmeer.
Der Wind kam ein bisschen übermütig aus Süd-Osten, aber das ist hier bei schönem Wetter eigentlich immer so.
Gegen 10 Uhr 23 tauchte der Punkt am Horizont auf.
Kam näher, wurde größer – war das wieder Hein Wernersen, und die alte Draisine klapperte und quietschte, dass sich einem die Nackenhaare aufstellten.
Ja, denk ich, das ist das alte Miele-Fahrrad, mit dem schon seine Oma vor zwanzig Jahren die Eier zum Markt gefahren hat.
Die hat dann das Ding später der Henriette vermacht.
Ein echtes Familienerbstück, aber wie lange hatte das jetzt wohl im Schuppen gestanden?
Ist ja klar, wenn man ein Auto hat, wieso sollte man da denn wohl noch mit dem Fahrrad fahren?
Die ganz kleinen Strecken läufst du zu Fuß, wollen mal sagen die dreißig Meter bis zum „Anker“, da fahre ich nicht mit dem Rad.
Und ansonsten?
Alles andere ist zu weit, da nimmt man dann doch lieber den Wagen, wozu hat man den denn schließlich sonst vor der Türe stehen?
Da kommt ein „Atomkraft nein danke“ - Aufkleber drauf, wegen der Umweltfreundlichkeit, und dann is das gut.
Das dauerte aber gar nicht lange, schon zwei Tage später, da sehe ich ihn kommen, aber hören tu ich nichts mehr.
Das quietscht nicht, das klappert nicht – nichts.
Mensch, denke ich, sollte er die alte Dame schon ein bisschen geölt haben?
Dann kommt er an mir vorbeigefahren, und ich sehe: Von wegen „geölt“!
Der hatte das gute Stück richtig auf „Sportlich“ getrimmt.
Die Schutzbleche hatte er abgeschraubt, und hinten dieses Netz, damit einem nicht der Rock in die Speichen gerät, und den Gepäckträger, der war auch nicht mehr dran.
„Mensch“, ruf ich ihm zu, „was hast du da denn gemacht, wo ist denn der ganze Klapperkram hin?“
„Das braucht nicht sein“, hat er gemeint, und ist an mir vorbei geschnauft. „das ist alles nur Ballast. Alles nur unnötiges Gewicht.“
Ich muss zugeben, dass sah tatsächlich schon sehr viel leichter aus – so ohne Lampe, und die Klingel fehlte auch.
Kann sein, dass er ohne diese Sachen auch schneller war als vorher, das kann ich aber jetzt nicht so wirklich beschwören.
Rein optisch war er auf jeden Fall schon ziemlich fix unterwegs.
Am nächsten Tag kam er wieder vorbei, und ich war ja auch schon so ein bisschen neugierig, ob es denn wohl wieder was Neues an dem Rad zu sehen gab.
Tatsächlich, er hatte sich einen Rennlenker angebaut, so einen, mit dem man aussieht, als wollte man gleich mal den Abflug proben. Zumal dann, wenn man so lange Beine wie Hein Wernersen hat, und der Hintern so unanständig hoch in die Lüfte ragt.
Der alte Gesundheitssattel, der wollte noch nicht so recht zu dem Ganzen passen, aber das würde Hein bestimmt noch ändern.
Hat er dann ja auch.
Im Laufe von, sagen wir mal, vierzehn Tagen, hat er aus der alten Miele Schleuder richtig was gemacht.
Der quietschende Ledersitz war verschwunden, dafür gab es jetzt so eine knallgelbe „Ritzenfeile“ aus Hartplastik.
Das tat mir schon beim hingucken weh, aber gut, wenn man keine Pläne mehr mit der Fortpflanzung hat
und auch keine Hämorrhoiden …
Meine Sache wäre das allerdings nicht, das kannst du glauben.
Die Reifen waren auch schmaler als vorher, er hatte andere Laufräder eingebaut – irgendwas mit Alu und Carbon.
Die hatten auch nur halb so viele Speichen, wie normal.
Das kam mir allerdings doch komisch vor.
Ich sage: „Sag mal, hält das denn wohl auch?“
„Ja klar, das ist alles „hochfest“ hier, mach dir mal keine Sorgen. Das hält wie verrückt.“
Bevor er dann wieder losgefahren ist, meint er noch, dass er ja auch erst ganz am Anfang mit der ganzen Tunerei wäre, und dass als Nächstes erst mal eine richtig teure Schaltung von Rohloff da eingebaut werden muss..
Ich hatte bis dahin immer gedacht, „Rohloff“ wäre ein dicker Sänger mit einem Russenkäppi.
Hein hat sich also jede Menge Teile aus dem Internet bestellt und, das muss man sagen, wenn er dann so an einem vorbei gefegt ist, dann schienen sich diese Investitionen auch wirklich gelohnt zu haben.
Es kam jetzt nur noch auf die Windrichtung an, aber am Wetter konnte ja auch die Nabenschaltung von dem dicken Sänger nichts ändern.
Als er nach ein paar Wochen mit dem Fahrrad fertig war, da wurde das aber erst richtig kriminell.
Da fing Hein Wernersen nämlich an, an sich selber rum zu tunen.
Zuerst kaufte er sich ein Paar Leggins, so was, was die Frauen eigentlich zum Turnen anziehen – in „glänzend königsblau.“ Eine Augenweide, vor allem bei Wernersens krummen O-Beinen.
Hinten war da so ein Kissen eingenäht, das sah aus, als hätte er ´ne Windel an.
Ich meine, so alt sind wir ja denn doch noch nicht – das kommt ja noch früh genug, das ganze Thema, da braucht man doch jetzt noch nicht mit anzufangen.
Und dann hatte er sich solche Turnschuhe gekauft, die man mit einem Mechanismus an den Pedalen befestigen kann.
„Das ist´ne dolle Sache“, hat er gesagt, „da kann man jetzt nicht mehr abrutschen, wenn das mal feucht sein sollte, und für den runden Tritt ist das auch gut.“
„Ich glaube, das ist eher für „auffe Fresse fliegen“ gut, hab ich zu bedenken gegeben, aber da wollte er natürlich nichts von hören.
Tja, was soll ich sagen, er hat sich da richtig ins Zeug gelegt, was das Zeug angeht – die ganze Maskerade da.
Erst hatte er diese Leggins, dann die Klick-Turnschuhe, dann ein rosa Leibchen von der Telekom, so kaputte Handschuhe, wo die Finger vorne raus guckten, und vor allem, und das war ja das Allerschärfste, er hatte jetzt immer so einen schicken Helm auf dem Kopf.
Also nicht so einen richtigen, wie man den vielleicht auf dem Motorrad trägt, sondern mehr so eine Eierpappe in lila mit pink und mit gelben Gurten unterm Kinn.
Wie ein Schiffchen sah das aus – wäre aber untergegangen, weil da waren lauter Löcher drin.
Das ist, damit man da drunter nicht so schwitzt, hat Wernersen mir erklärt, und es wäre außerdem gut für die „Aerodynamik“.
Also. das sah richtig Käse aus.
Ich will nicht „Scheiße“ sagen, weil „Scheiße“ sagt man ja nicht, aber „Käse“ sah das aus, auf jeden Fall.
Und vor allem: Was für ein Quatsch das alles war.
Überleg doch mal, dieses Plastikbrötchen, das hockt da oben, ganz oben auf deiner Schädeldecke drauf, und du machst da jetzt mal einen gepflegten Abgang vom Fahrrad.
Da musst du aber schon verdammt genau zielen, damit du nicht auf die Nase fliegst, oder auf den Bauch, oder sonst wo landest.
Du müsstest quasi senkrecht hoch, dann oben einknicken, weißt du, wie so ein Turmspringer, dann die Arme rechtzeitig am Körper anlegen und nur mit der „Glocke“, oben mit dem Scheitel auf das Kopfsteinpflaster knallen.
Dann nützt das was mit diesem Hut.
Aber sonst doch wohl nicht.
Und, da möchte ich doch mal wissen, bei wie vielen Unfällen denn das wohl so abläuft.
Da müsste man ja erst mal einen Kursus dafür belegen: „Turmspringen ohne Turm“ oder so.
Obwohl, mir könnte das gefallen.
Stell dir mal vor, die Polizei würde jeden Sonntag Nachmittag den Parkplatz von unserem Supermarkt sperren, und alle, die so einen Helm besitzen, kommen dann da zum Training hin.
Alle müssten versuchen, aus dem Stand hoch in die Luft zu springen, um dann mit einem „Köpper“ punktgenau zu landen.
Vielleicht gäbe es sogar eine Jury, die für die eleganteste Landung einen Preis verleiht – und dann, nur wenige Jahre später, gibt es das sogar bei Olympia.
Eine olympische Disziplin, hier in Boddelskoog erfunden, und auch nicht blödsinniger, als alles andere, was die ollen Hellenen sich damals ausgedacht haben.
Ich würde da wohl nicht aktiv dran teilnehmen, aber mit einem Kasten Bier und einem Klappstuhl an einem sonnigen Nachmittag das ganze beobachten, könnte mir wohl Spaß machen.
Hein Wernersen jedenfalls hatte schon jetzt seinen Spaß.
Er donnerte wie ein rosaroter, gelb-grün gestreifter Kugelblitz mit seinem getunten Damenrad über den Deich.
Jeden Morgen, da konntest du die Uhr nach stellen, kam er an mir und meiner „Seniorenbank“ vorbei gezischt.
Sicher, je nach Witterung.
Bei Gegenwind kam er so gegen fünf nach halb, aber mit Rückenwind war er oft schon um zwanzig nach da – kann auch mal dreiundzwanzig gewesen sein.
Jeden Morgen, da konnte das Wetter sein wie es wollte, strampelte mein Kumpel
Hein über die Deichkrone.
Bei Sturm und Regen habe ich ihn dann immer mit dem Feldstecher von meinem Küchenfenster aus beobachtet – Respekt, das muss ich sagen, der ließ sich von nichts beeindrucken.
Nun, eines schönen Tages, das war an einem Freitag im Spätsommer, da kam er nicht.
Obwohl ganz großartiges Wetter war, und nur ein ganz leichter Ostwind wehte.
Ja, was hat er denn?, hab ich bei mir gedacht - vielleicht einen Platten oder so?
Oder vielleicht hatten sie ihn auch engagiert als Werbeträger für sportliche Reizwäsche mit Windeleinlage. Keine Ahnung.
Er kam den ganzen Tag nicht, und am nächsten Tag hab ich auch umsonst gewartet.
Wann war denn das jetzt noch genau, am Freitag?
Nee, Moment, das war am Donnerstag.
Donnerstag kam er nicht, Freitag kam er nicht, am Samstag kam er nicht und am Sonntag kam er auch nicht. So war das.
Böse Merkwürdig, das Ganze.
Im „Anker“ wusste auch keiner was los war, und so hab ich am Sonntagabend mal bei ihm angerufen.
Vielleicht war mein bester Kumpel ja in irgendeiner Not, und da muss man sich logischer Weise ja wohl sofort drum kümmern.
So was duldet keinen Aufschub.
Seine Frau war am Apparat und ich sage: „Moin Henriette, was ist mit deinem Mann denn los, wo ist der, warum fährt der denn nicht mehr mit dem Rad?“
„Oh“, sagt sie, „der ist doch im Krankenhaus.“
„Was, schon wieder mit der Pumpe?“
Henriette hat gelacht: „ Nee, keine Sorge, ist nichts Schlimmes.“
„Wie, nichts Schlimmes?“
„Der ist vom Fahrrad gefallen und hat sich den Arm gebrochen.“
„Was?“
„Ja, der ist vom Fahrrad gefallen, oder besser gesagt, der ist mit dem Fahrrad gefallen. Umgefallen ist er.“
Ich sage: „Was erzählst du denn da für Geschichten? Nu noch mal richtig, bitte. Was ist denn da jetzt genau passiert?“
„Ja, also, am Donnerstag wollte er den Deich hoch. Mal gucken, ob er das wohl schafft, weil, das hatte er schon länger geübt. Jeden Tag ein bisschen steiler und noch ein bisschen steiler, mal hoch da. Er wollte das jetzt mal wissen, aber er hatte wohl einen etwas zu großen Gang erwischt, und als er oben auf der Deichkuppe fast angekommen ist, hat er den Halt verloren. Also, das Gleichgewicht hat er verloren, nicht den Halt. Und nun wird das Tragisch.“
„Tragisch?“
„Tja, seine Füße waren doch festgebunden an diesen Pedalen, diesen neumodischen. Und da hatte er das wohl nicht richtig eingestellt, ein bisschen zu fest, nehme ich an. Kannste dir das vorstellen? Da stand er jetzt da oben, war am zappeln und kriegte die Füße nicht mehr raus. Und ganz langsam aber sicher kippte er dann, wie eine abgesägte Nordmanntanne, nach Steuerbord. Da musste er sich abfangen, und was hat er gemacht? Den rechten Arm hat er raus gehalten.
Da hat das „knack“ gemacht, das Handgelenk war kaputt und mein Gatte lag im Dreck. Zwei Zentner sind zu viel für einen Arm, das hätte er sich eigentlich denken können.“
„Und dann?“
„Du kennst ja meinen Hein. Der ist mit dem kaputten Arm auf `s Fahrrad gestiegen, nach Hause gefahren und wollte von mir Sportsalbe und eine Mullbinde haben.
Er hätte sich da wohl was „verstaucht“ hat er gemeint, der Spinner.
Wollte sich mit einem Stück Pappe und mit Klebeband selbst eine Schiene machen – ganz egal, Hauptsache nicht ins Krankenhaus.
Seid ihr Kerle eigentlich alle so dämlich?“
„Und, was habt ihr dann gemacht?“
„Ich habe einfach abgewartet, bis er die Schmerzen nicht mehr aushalten konnte und mir gnädig erlaubt hat, ihn ins Hospital zu bringen.
Da haben sie ihn dann untersucht und gleich auf Station gebracht.
Morgen, am Montag, wird er operiert.“
„Ach was.“
„Ja, Montag früh um zehn, haben die gesagt, geht das los.
Das ist alles wohl doch ein bisschen komplizierter mit dem Bruch.
Da gibt es sogar einen speziellen Namen für, hat mir der Herr Doktor erzählt. Das ist eine „Chauffeurs – Fraktur“.
„Was für eine Fraktur?“
„Das ist, hat der Doktor gesagt, früher immer bei den Chauffeuren passiert.
Wenn die mit der Kurbel die Autos anschmeißen wollten, dann hat manchmal die Kurbel zurückgeschlagen – und zwar genau auf die gleiche Stelle, die auch bei meinem Hein jetzt kaputt ist.“
„Ach du Schande“, hab ich gesagt, „na denn grüß ihn mal schön. dann werden wir mal sehen, ob ich ihn nicht vielleicht auch mal besuche oder so.“
„Da wird er sich freuen, aber das brauchst du morgen noch nicht machen.
Lieber erst übermorgen, oder am Mittwoch. Weil, der kriegt ja Vollnarkose.
Nachher erkennt er dich vielleicht gar nicht und denn hast du den ganzen Weg umsonst gemacht.“
Ich war echt schockiert.
Am Montag sitze ich wieder auf meiner Seniorenbank. Ich lasse den Blick übers Wattenmeer schweifen und denke: Das ist doch wirklich mal schade drum.
Da wird so ein junges Talent, wie Hein Wernersen, dahingerafft von so einer blödsinnigen Bindung da unten am Fuß.
Kannst doch wirklich vergessen, die ganze Chinesentechnik.
Ich sinniere so vor mich hin, da setzt sich auf einmal einer neben mich.
Hein Wernersen in voller Lebensgröße.
Hat den Arm zwar eingegipst, aber die ganze Radlermontur hat er an – von dem Rad war allerdings nichts zu sehen.
Ich sag: „Was willst du den hier, ich denke, du bist im Krankenhaus?“
„Ja“, sagt er, „das war ich ja auch.“
„Und nu?“
„Die haben sich vertan.“
„Vertan?“
„Ja, du glaubst das nicht. Am Freitag haben sie den Arm geröntgt, mich durch die Coputertomografie geschickt und all so was.
Dann haben sie mir Blut abgenommen und waren sich am ende dann ganz sicher:
Das muss gleich am Montag operiert werden.
Am Sonntagabend kam der Narkosedoktor an und hat mich erst mal angeschissen, weil ich nicht auf meinem Zimmer gewesen bin.
Ich war eine rauchen, ist doch logisch, was soll man denn auch sonst wohl machen, im Krankenhaus, den ganzen Tag?
Er hat mir dann erklärt, dass die Operation reine Routine wäre und ganz harmlos.
Ich sollte aber trotzdem mal eben einen Zettel unterschreiben, nur für den Fall, dass ich vielleicht doch „weg bleiben“ würde. Damit dann alle wissen, dass er und seine Kumpels da keine Schuld dran haben, und meine Witwe keinen Aufstand macht … das kannte ich ja schon.
Ab Sonntagabend um zehn durfte ich dann auch nichts mehr zu mir nehmen.
Ich sollte „nüchtern“ bleiben, und Frühstück am Montagmorgen würde auch ausfallen, hat er gemeint.
Nicht mal Wasser durfte ich trinken, wegen dem „Marilyn Monroe Effekt“.
„Wegen was?“
„Das ist, wenn einer während der Narkose kotzen muss und daran dann erstickt. Da sind die ganz humorvoll, die Doktores.“
„Und dann?“
„Na ich bin ja kein ängstlicher Typ, das weißt du ja, aber gut geschlafen hab ich trotzdem nicht – muss wohl an der harten Matratze gelegen haben, oder am Heimweh. Heute Morgen haben sie mich so gegen halb sieben aus dem Bett geschmissen, um mir die Kissen aufzuschütteln.
Überall roch das so fein nach Kaffee und Brötchen, au Mann hatte ich einen Schmacht.
Dann kam die wachhabende Oberschwester, Schwester Hannelore, und hat mir so ein OP – Leibchen angezogen. So eins mit hinten offen, wo das immer so unangenehm rein zieht.
Das war ja schon leicht albern, aber damit hatte sie ihr Pulver noch lange nicht verschossen.“
„Sag bloß.“
„Was du wohl glaubst. Jetzt wurde das richtig erotisch.“
„Mit Oberschwester Hannelore?“
„Oh ja, man könnte das sogar schon fast „sexy“ nennen.“
„Erzähl, was war.“
„Sie hat ein paar lange, weiße Gummistrümpfe hervor gezaubert und mir die über die Füße massiert, die Beine hoch, bis fast an den Schambereich ran.
Ich muss ausgesehen haben, wie Gina Wild mit Bierbauch.“
„Nicht schlecht“, hab ich gesagt, auch wenn mir diese Vorstellung nicht wirklich „erotisch“ vorkommen wollte. Wer ist Gina Wild?
Hein Wernersen lächelte in sich rein: „Das ist gut für die „Kompression“, hat die Schwester mir erklärt, damit man keine Thrombose in den Beinen kriegt.
Dabei wollte ich doch gar nicht mit dem Flieger weg.
So lag ich dann da, in diesen Gummistrümpfen und meinem kurzen Hemd.
Gegen zehn vor zehn, ich hatte gerade so eine „Scheißegal – Pille“ eingeworfen und dachte an Marilyn Monroe, da geht die Tür auf und der Chefarzt kommt rein.
„Guten Morgen Herr Wernersen“, hat er gesagt, „Sie sind ja schon aufgewacht und ausgehfertig.“ Dann hat er einen Blick in meine Akte geworfen und gemeint: „ Gut, wenn Sie wollen, dann können wir auch gleich loslegen.“
„Wie, wenn ich will?“
Er zuckt mit den Schultern: „Wir müssen nicht unbedingt operieren.
Wie ich das hier so sehe, könnten Sie auch einfach nur einen Gips bekommen.
Aber dann müssten wir wenigstens sechs Wochen warten, bis alles wieder verheilt ist.
Und den OP hätten wir dann ja auch ganz umsonst vorbereitet. Die Krankenkasse sieht so was natürlich lieber, aber wenn Sie auf den Eingriff bestehen, können die da eigentlich nicht viel machen.“
Als ob ich auf so was bestehen würde.
„Nein, Herr Doktor, darauf bestehe ich in keinster Weise, auch wenn Sie bestimmt einen ganz besonders hübschen Operationssaal haben.
Ich ziehe es trotzdem vor, mit einem einfachen Gipsarm sofort ihr sympathisches Krankenhaus zu verlassen“, das wollte ich sagen, aber irgendwas war wohl mit dieser Pille, die ich genommen hatte, nicht in Ordnung gewesen.
Mein Mund war mit einem mal so trocken, dass ich kaum noch einen Ton herausbringen konnte.
„Giaammmmmhmmmm …“, das war alles.“
„Wie bitte?“
„Giibsaaaam, nahauegeehn …“ meine Zunge war ein dickes, angeschwollenes Ding in meiner Kehle.
„Ich habe Sie zwar nicht ganz verstanden, Herr Wernersen, aber wir können Sie gern sofort hinüber fahren.“
„Heimheim! Heime oh hee.“
Es war, als ob eine feuchter Hamster in meiner Mundhöhle hockte.
Ich musste unbedingt was trinken.
„Wenn Sie möchten, ist alles in ein paar Minuten für Sie bereit Herr ...“
Ich versuchte, die Flasche mit dem Wasser auf meinem Nachttisch zu erreichen.
„Heimheim! Heie Ohehahion.“
In meinen Wangen krabbelten tausend Ameisen und meine Lippen kamen mir so dick vor, wie die von einem Jazztrompeter.
„Herr Wernersen, Sie brauchen keine Angst zu haben, es sind hier nur Fachleute am Werk. Selbst mein Narkosearzt ist heute so nüchtern und ausgeschlafen, wie selten.“
„Heim … heim … heim!“ Ich rudere mit den Armen, die Wasserflasche schlittert über den Nachttisch und zerplatzt auf dem Linoleum.
Eine ziemliche Schweinerei.
Der Doktor hüpft beiseite: „Aber Herr Wernersen, was machen Sie denn?“
Die Tür zu meinem Zimmer fliegt auf, es ist die Oberschwester: „Was ist denn hier los?“
„Ich habe keine Ahnung, ich habe mich nur nett mit dem Patienten unterhalten, habe ihm vorgeschlagen, dass …“, sagt der Oberarzt.
Mein Gesicht ist eine gefühllose, lauwarme Masse und mein Schädel ein kalter Zylinder von drei Metern Höhe.
„Sagen Sie was!“ herrscht mich die Schwester an.
Ich versuche es so gut ich kann: „Hammnh?“ Ich weiß selbst nicht, was das bedeuten soll.
Sie schubst den Herrn Professor beiseite, stapft auf mich zu, greift mein linkes Handgelenk und ihr Daumen drückt mein rechtes Augenlid in die Höhe.
Ihr Gesicht ist ein verzerrter Pfannkuchen mit schwarzer Hornbrille.
„Allergisch!“ sagt sie, „verdammt, der ist allergisch, der blöde Hund. Es würde passieren, das habe ich gestern noch gesagt, oder, Herr Doktor? Ich habe es gesagt, aber auf mich hört ja keiner. Nur, weil hier niemand den Beipackzettel liest und nicht den Apotheker fragt, wenn das Verfallsdatum abgelaufen ist – jetzt haben wir den Salat.“
Meine Arme fühlen sich inzwischen an, wie dünne, kalte Drähte und von meinen Beinen hab ich auch schon länger nichts gehört.
Schwester Hannelore macht auf dem Absatz ihrer Gesundheitslatschen kehrt, stürmt aus dem Zimmer und kommt einen Wimpernschlag später mit einer recht ansehnlichen Spritze zurück.
„Jetzt aber schnell, jetzt aber schnell“, höre ich sie flüstern, dann sticht sie die Nadel irgendwo in meinen linken Arm.
Bei meiner allgemeinen Taubheit kann ich die Einstichstelle erst gar nicht richtig lokalisieren, aber schon nach wenigen Sekunden ändert sich das.
Da, wo sie das Gegenmittel eingespritzt hat, beginnt es zu brennen.
Erst ist es nur wie ein glühender Streichholzkopf, aber die Stelle wird schnell größer.
Sie wird so groß, wie die Glut einer Zigarette, dann wie die Glutspitze einer echten Havanna, dann so groß wie ein Brandeisen, mit dem man Kälber markiert.
Der Schmerz zerplatzt, wie eine Feuerwerksrakete, zerfasert, fließt wie dünne Lavaströme bis in meine Fingerspitzen, aber gleichzeitig auch aufwärts durch meine Schulter, den Hals rauf, über mein Gesicht bis unter die Schädeldecke, und ich könnte schwören, es hat nach verbrannten Haaren gerochen.
Die Lava kroch unaufhaltsam durch meine Adern.
Sie erfasste meinen rechten Arm,überquerte den Brustkorb, arbeitete sich abwärts und kam, nach gefühlten sechs Wochen, in meinen Zehenspitzen an.
Es glühte und pulsierte noch überall in mir, aber Schwester Hannelore hatte wohl trotzdem das richtige Mittelchen erwischt, denn meine Zunge schwoll ab, und ich konnte wieder sprechen.
„Aua, Verdammt!“ hab ich sie angebrüllt, „Was treibt ihr hier eigentlich mit mir? Ich bin doch nicht euer Versuchskarnickel.“
Der Chefarzt kam näher: „Ah, Herr Wernersen, ich sehe es geht Ihnen wieder gut.
Wie schön, dann können wir Sie ja gleich in den OP bringen. Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit, hier herumzualbern. Nicht wahr, Schwester Hannelore … hahaha.“
„Ich will keine Operation“, meine Stimme war schon wieder fast wie früher.
„Wie bitte?“
„Nee, Herr Doktor, wenn das nicht unbedingt sein muss, dann will ich das lieber nicht.“
„Aber Herr Wernersen, ich dachte, wir wären uns einig, dass Sie sich für den Eingriff entschieden haben.“
„Einig“, sag ich, „wer ist sich hier einig? Ich will keine OP, keine Beruhigungsmittel, keine allergischen Reaktionen und auch keinen „Marilyn Monroe“ Effekt.“
„Aber mein lieber Herr Wernersen“, der Doktor hat mich angesehen, wie der Pastor eine verirrte Seele, „dieser sogenannte Effekt ist doch nur ein Ammenmärchen, den gibt es in Wirklichkeit doch gar nicht. Und was Ihre unbedeutende Reaktion von vorhin angeht, so ist das nur auf das überalterte Medikament zurückzuführen, ein bedauerliches Versehen. Das Mittel hätte eigentlich schon längst als humanitäre Hilfe auf dem Weg nach Afrika sein sollen. Sie würden jetzt natürlich ganz frische Medikamente bekommen, das garantiere ich. Einige sind noch nicht einmal richtig zugelassen …“
„Ich will den Gips, dann will ich Frühstück und dann hätte ich gerne ein Taxi nach Boddelskoog, wenn das keine Umstände macht.“
„Wenn das Ihr letztes Wort ist ...“, der Doktor hat die Unterlippe vor geschoben, dann ließ er die Schultern hängen und sah genauso enttäuscht aus, wie ein Dobermann, dem man das Kätzchen nicht gönnt.
„Das ist mein letztes Wort“, hab ich gesagt, „ mein allerletztes.“
Da hat dann die Schwester Hannelore den traurigen, kleinen Doktor an ihren ausladenden Busen gedrückt und ist mit ihm raus gegangen.
Wahrscheinlich hat sie ihm in der Kantine zum Trost ein Erdbeereis gekauft.“
Hein Wernersen grinste: „Siehst du, Janek, so ungefähr war das, und deshalb bin jetzt hier.“
„Meine Güte“, sage ich und kann mir einen anerkennenden Pfiff durch meine Zahnlücke nicht verkneifen, „da hast aber nochmal Schwein gehabt.“
„Das kannst du wohl so sehen. Ich bin dem dem Onkel Doktor sozusagen gerade nochmal von der Schippe gesprungen.“
„Ja, Mensch“, sag ich, „kann ich denn vielleicht was für dich tun? Willst du eine rauchen, willst du ein Bier? Soll ich dir `ne Pommes mit Mayo oder ein Fischbrötchen von der Bude holen? Ich meine, nach dem ganzen Stress, bist du doch wohl völlig ausgehungert.“
„Nee, Jan, das brauchst du nicht. Ne Dose Bier könnte ich allerdings wohl vertragen.“
„Klar, natürlich, kannst du haben. Ich habe ja immer reichlich davon am Mann. Ich warte ja auch schon die ganze Zeit, dass du vorbei kommst und mal wieder vernünftig wirst und dich ein bisschen hier zu mir her setzt.“
Da sieht er mich so komisch an, so ganz ernst, und sagt:
„Janek, ich glaube, das war`s.“
„Wie, was soll das denn heißen?“ ich reiße die Dose auf und reiche sie ihm rüber.
„Danke. Ja, sieh dir das doch an, ich kann jetzt nichts mehr machen. Nun hab ich die Hand in Gips. So kann ich nicht mehr Rad fahren, aber das muss ich ja. Wegen der ganzen Innereien, und damit ich nicht wieder … also, ... damit ich …“
„Hör auf zu stottern“, sag ich, „was ist denn los?
Da macht der völlig den Klappstuhl, da neben mir, fällt irgendwie so ein, kriegt ganz schmale Schultern und dann sagt er:
„Nu bin ich tot.“
„Was?“
„Ja, nun ist das aus mit mir.“
„Wieso bist du denn tot? Du sitzt doch hier, was soll der Quatsch?“
„Nee“, sagt er, „das Problem ist anders, das kannst du auch nicht wissen ...“
„Was ist anders?“
„Janek“, sagt er, „ ich bin … ich bin ein Cyborg.“
„Ein „was“ bist du?“
„Ich bin ein Cyborg.“
„Und was soll das sein?“
„Das ist so halb Mensch und halb Maschine, hast du das noch
nie im Fernsehen gesehen?“
„Wieso bist du denn jetzt auf einmal halb Maschine und halb Mensch? Haben dich die Aliens erwischt?“
„Nee Jan, sieh mal, ich war immer ein Mensch. So ganz natürlich mit allem Drum und Dran. Alles an mir war „natürlichen Ursprungs“ könnte man sagen. Aber damals, als diese Arterie dicht gegangen ist, und die angefangen haben an mir rum zu pfuschen … Weißt du, da haben sie die Ader künstlich erweitert – das war ja noch nicht so schlimm, aber dann haben sie dieses Ding da eingesetzt, dieses Röhrchen.“
„Ja und?“
„Was heißt „ja und“, davon hängt jetzt mein ganzes Leben ab.“
„Wovon hängt die Leben ab?“
„Von diesem Röhrchen, Janek, das sorgt dafür, dass meine Pumpe Blut kriegt. Das ist so ein Stück Irgendwas – Metall vielleicht, oder Kunststoff. Denk mal, das rostet oder oxidiert, das kann doch sein, dass das rostet. Oder, das hat vielleicht eine raue Oberfläche und dann setzt sich da der Dreck ab, wie bei so einem Abflussrohr. Wenn das alt wird, das Abflussrohr, dann wird das doch auch rau, und der ganze Dreck bleibt da dran hängen. Irgendwann ist das zu, dann geht da gar nichts mehr und dann läuft der Lokus über. In meinem Fall heißt das, ich falle einfach irgendwo um.“
„Du fällst einfach um?“
Hein Wernersen nippte an seinem Bier:
„Ja, die haben mir damals einen ganzen Sack voll Medizin mitgegeben, und ich hab mir erst mal die Gebrauchsanweisungen durchgelesen, bevor ich da was von genommen habe. Das ist echt unglaublich. Da steht überall drin: Wenn sie unser Mittel nehmen, kann das ganz üble Folgen haben. Ich übersetzt das Geschwafel von denen mal ganz frei. Gleichzeitig sagen sie: Wenn du das Zeug nicht nimmst, dann geht das in jedem Fall in die Hose. Also, du kannst machen, was du willst. Nimmst du das, gehst du drauf. Nimmst du das nicht, gehst du auch drauf. Schuld hast du auf jeden Fall immer selbst, das ist doch mal fein, oder?
„Ja“, sag ich, „ das ist schon ein heftiger Verein da.“
„Weißt du, Janek, worüber ich dann mal nachgedacht hab?“
„Nee.“
„Sieh mal, das mit den ganzen Medikamenten hat doch einen Sinn. Das hat bestimmt damit zu tun, dass das Implantat nicht ganz koscher ist – weil, die müssen ja auch sparen. Die können ja nicht einfach einen Haufen Geld für mich ausgeben, da bleibt sonst ja nichts für den neuen Porsche übrig. Also werden sie diese Röhrchen irgendwo günstig einkaufen. Vielleicht in China, oder in der Mongolei oder in Süd - Timbuktu, was weiß ich. Ich habe von Leuten gehört, denen haben sie fünf oder zehn Stück davon implantiert. Und warum?“
„Keine Ahnung.“
„Ist doch klar: weil die Dinger nichts taugen, weil die immer wieder dicht gehen. Und dann heißt es eben: Macht nichts, ist alles halb so schlimm, wir haben ja noch welche davon. Made in Mali.“
Hein Wernersen steckte sich eine Zigarette an und schüttelte den Kopf:
„Du gehst abends ins Bett und morgens wachst du auf und bist tot. Nur weil der Billig – Kram nichts getaugt hat. Weißt du, du hast deine alte Vene fünfzig Jahre und sie macht, was eine Vene so tut. Was weiß ich, was sie wirklich macht,aber sie macht ihren Job. Bis zu dem Tag an dem dann so was passiert – und dann?
Dann sagen sie, dass sie das ganz wunderbar wieder hinkriegen können und bauen dir da so einen Schrott ein. Und, hast du da etwa Garantie drauf? Kannst du dann sagen: Hallo Leute, ich bin da grade letzte Nacht verstorben. Euer Implantat hat wohl nicht richtig funktioniert, kann ich das vielleicht mal reklamieren hier?
Da schütteln die dann mit dem Kopf, weil, das kannst du nicht reklamieren, da hast du keine Garantie drauf – da hast du gar nichts drauf. Das hast du schließlich vorher unterschrieben.
Auf jeden billigen Toaster aus Korea hast du zwei Jahre Gewährleistung. Wenn der sich vorzeitig verabschieden sollte, dann gehst du zum Händler deines Vertrauens, legst die Quittung auf den Tisch und bekommst das Gerät ersetzt. Aber mit dieser ganzen Medizintechnik?
Da heißt es nur: Sie haben bestimmt ihre Tabletten nicht richtig eingenommen, da haben sie dann ja wohl selber Schuld
Wenn du aber, wie ich ja schon gesagt habe, gelesen hast, was du von dieser sogenannten Medizin alles kriegen kannst, dann nimmst du die nicht mehr. Da hast du dann vielleicht die Röhre wieder frei, aber ansonsten wirst wirst du blöd im Kopp, oder blind, oder dir faulen die Klötze weg. Das kannst du doch nicht riskieren, oder?“
„Nee“,sag ich, „das kannst du nicht.“
„Siehst du, und da hab ich hin und her überlegt, und mich gefragt: was machst du denn jetzt mal? Und dann hab ich gedacht: Bewegung.
Bewegung ist gut, weil das Blut dann immer so schön hin ind her fließt, und dann reinigt sich das dadurch auch alles wieder von selber. Dann braucht man keine Panik mehr vor so einer Verstopfung haben.
Was glaubst du denn, warum ich wohl sonst den ganzen Zauber veranstaltet habe mit dem Fahrradfahren und so. Glaubst du, ich hab da Lust zu? Da hab ich ganz genau so wenig Lust zu wie du, das kannst du mir glauben. Diese ganze Fahrradfahrerei, und jetzt hab ich mir auch noch so Fischölkapseln und Artischockenherzen Extrakt von dieser Klosterfrau da gekauft. So was macht man doch nicht, weil man da Lust zu hat, das machst du doch nur, wenn du denkst, du musst das.“
„Ja“, sag ich, „das stimmt. Und nu?“
„Nix is, nu kann ich das nicht mehr. Jetzt ist das Fahrrad endlich fertig, und jetzt hab ich hier den Gipsarm, da kannst du nicht mir Fahrrad fahren. Da fällst du nachher zur anderen Seite und brichst dir „Oberschenkel - Hals“.
Da weißt du ja wohl, was das heißt.“
„Ja“, sag ich, „das hatte meine Tante Meta auch. Ist im Badezimmer ausgerutscht. Armes Mädchen.“
„Was richtig schlimm ist, Janek, das hat mit dem gebrochenen Arm gar nichts zu tun. Das spielt sich alles hier oben ab.“ Er tippt sich an die Stirn: „ Ich weiß auf einmal Sachen, die wollte ich vorher gar nicht wissen.“
„Was denn für Sachen?“
„Ich weiß jetzt, dass jeder und alles, was lebendig ist, irgendwann stirbt.“
„Ja“, sag ich, „das weiß ich auch. Irgendwann ...“
„Nee, Janek, nee. „Irgendwann“ heißt nicht: irgend - wann in einer anderen Zeit, irgend – wo an einem anderen Ort. Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht ist „Irgendwann“ ja auch schon gleich.“
„Ach was, wieso denn „gleich“? Was soll der Quatsch, hör doch auf.“
„Nee, ich hör nicht auf. „Irgendwann“ heißt: „Jetzt“, „gleich“, „nächste Woche“, „nächstes Jahr“, weiß der Kuckuck.
Man weiß das nicht, und man denkt da auch nicht drüber nach.
Du sitzt hier rum und denkst, du hast ewig Zeit, hast du aber nicht.“
„Ach Hein, was soll denn das? Trink dein Bier, rauch` eine, oder mach von mir aus Kniebeugen, aber laber mich doch hier nicht mir so was voll.“
„Hör zu Janek, ich war letztens auf dem Bahnhof und da war ein Automat. Kennst du diese Automaten, wo so Gummibärchen drin sind und Bifi und Getränke und allerhand andere Süßigkeiten?“
„Ja klar.“
„Also, pass auf, da stehen diese Tüten mit den ganzen Sachen. Die stehen da vorne an der Kante und werden von so einer Spirale fest gehalten.
Wenn du jetzt Geld einwirfst und eine Nummer wählst, dann dreht sich diese Spirale und gibt eine von den Tüten frei. Irgendeine. Die fällt dann in den Schacht und ist weg. Die anderen Tüten sehen da hinterher und sind erschrocken oder vielleicht ganz traurig, oder bestürzt.“
„Was? Die Tüten sind „bestürzt“?“
„Kann doch sein. Manch eine ist froh, dass es sie selbst nicht erwischt hat, aber den meisten anderen ist es eigentlich ziemlich egal, sie betrifft das alles nicht.
So ist das mit uns auch.“
„Moment mal“, sag ich, „was hast du mir hier eigentlich zu erzählen.
Ich verstehe kein Wort.“
„Janek“, sagt er, „Alter, du stirbst.“
„Ach was, mir fehlt doch nichts.“
„Doch, alles, was lebt, stirbt. Du und ich, alle Leute, die du kennst, dein Hund, deine Katze – ganz egal. Alles, was jemals geboren oder gewachsen ist, das stirbt auch wieder.“
„Ja und? Das ist doch alles nichts Neues, das weiß ich doch.“
„Tja Jan, das hat aber wie bei dem Automaten einen bösen Trick – es geht nämlich nicht nach der Reihe.
Du kannst nicht sagen: O:K:, wenn ich mal achtzig oder so bin, dann habe ich sowieso keine Lust mehr und dann kann ich hier auch verschwinden.
Das denkst du, aber da stimmt nichts von.
Sieh mal, du bist fünfzig, aber es gibt Leute, die sind gestorben, da waren sie siebzehn, achtzehn, neunzehn. Manche waren erst zwölf, manche fünfundzwanzig, manche fünfunddreißig. Die sind alle nicht so alt geworden, wie du heute bist.“
„Die waren dann eben krank oder hatten einen Unfall oder so.“
„Ja und? Das ist wie in diesem Automaten, du weißt nicht, wann du dran bist. Du denkst, das kann doch gar nicht sein, vor mir kommen doch erst noch die Gummibärchen und dann kommen die Lakritzschnecken oder Heinz Piepenbrock – aber etwas hat auf deinen Knopf gedrückt und das war´s dann.
Und es ist ganz egal, was es war.
Das kann ein Unfall sein. Da kann aber auch, wie bei mir, einfach so eine Arterie dicht gehen und denn kommt kein Blut mehr an.
Gründe gibt es viele, aber das Ergebnis ist das Gleiche:
Feierabend – weg von der Welt.“
„Wech vonne Welt, einfach so? Das is doch Quatsch.“
„Nee, das ist kein Quatsch, Janek. Es kann sogar sein, dass diese olle Röhre in meiner Arterie zwar Made in China ist, aber die haben sich ausnahmsweise richtig Mühe gegeben. Das Ding hält noch wer weiß wie lange. Kann sein, ich bin demnächst achtzig oder fünfundachtzig und bin immer noch hier, aber du bist dann schon lange nicht mehr bei uns. Weil du nämlich übermorgen besoffen ins Hafenbecken fällst und den Löffel abgibst.
Darum geht das, mein Freund, darum geht das.“
„Ach, hör auf“, sag ich, „hör doch auf, was erzählst du denn.
Du hast dir da doch so eine „Trauma“ in der Klinik eingefangen.
Weißt du, was dein Problem ist?“
„Nein, weiß ich nicht“
Ich sag: „Du quälst dich nur hier rum mir diesen Sachen, weil du das Prinzip nicht verstanden hast.“
„Was denn für ein Prinzip?“
„Sieh mal, das einzige Problem, was du hast ist, dass du kein Jonathan bist.“
„Dass ich was nicht bin?“
„Ja, guck mal da oben.“
„Was ist denn ein „Jonathan“?“
„Ein Jonathan oder eine Emma.“
„Du meinst eine Möwe?“
„Genau.“
„Was habe ich denn mit einer Möwe zu tun?“
„Ja, eben nichts. Und genau das ist dein Problem.“
„Wie?“
„Meine Güte“,sage ich, „ eine Möwe, die kriecht aus ihrem Ei raus und hat keine Ahnung, wer oder was sie ist. Bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter meint, dass das gute Kind wohl alt genug ist und ihm einen Schubs gibt.
Der kleine „Jonathan“ wird sich sicher zuerst erschrecken, aber er wird, wenn er sich nicht zu lange wundert, seine Flügel ausbreiten und los fliegen.
Dann weiß er, wer er ist und beschäftigt sich von da an nur noch damit eine Möwe zu sein. Der macht sich ansonsten doch keinen Kopp mehr um nichts.
Flattert hier rum, beschäftigt sich mir Kurven fliegen, rauf und runter, klaut Heringe und was er nur finden kann, haut sich mir den anderen Möwen, kackt auf die Touristen und macht alles Mögliche, aber er hat nie ein Problem damit, eine Möwe zu sein.
Wenn ein Sturm aufzieht, dann sind das die Einzigen, die sich darauf freuen.
Alle anderen ziehen die Ohren ein, verbarrikadieren sich und bringen sich in Sicherheit, aber die Möwen steigen auf und sagen: Los Unwetter, komm! Los, damit wir mal ein bisschen Spaß haben.
So, und wenn das da oben richtig zur Sache geht, wenn das donnert und blitzt und wir uns hier unten beinahe in die Hose machen wegen der Sturmflut, dann geben die Gas, die Burschen. Dann ballern die durch die Gegend wie die Blöden, haben Spaß ohne Ende und lachen sich tot über uns.
So, und eines Tages sitzt unser Jonathan auf seinem Poller, macht die Augen zu und fällt runter ins Brackwasser.“
„Und, was soll mir das jetzt sagen?“
Ich sag: „Dein Problem ist, dass du nicht weißt, wer du bist. So eine Möwe, die weiß das. Eine Möwe weiß, dass sie eine Möwe ist. Und so lange wie sie da ist, macht sie, was sie tut. Und wenn Schicht ist, ist Schicht. Nicht mehr und nicht weniger.
Du musst einfach nur rausfinden, wer und was du bist.
Was du kannst, was dein Ding ist, weißt du.
Und wenn du das rausgefunden hast, dann machst du das, bis einer sagt: „Feierabend“.
Und wenn einer auf den Knopf drückt und du bist dran, dann bist du eben dran.
Dann war es das eben – fertig aus.
Aber nicht der ganze Dreck mit der Angst und so.
Die haben keine Angst, die Möwen.
Die fliegen heute und sie fliegen morgen, und wenn sie übermorgen nicht mehr fliegen, dann ist das auch in Ordnung.
Die wissen, was sie sind und tun, was sie sind. Dein Problem ist, dass du das eben nicht weißt. Kannst du besonders gut singen?“
„Singen? Nee, glaub ich nicht.“
„Kannst du tanzen?“
„Hab ich nie probiert.“
„Dann kannst du vielleicht Geschichten erzählen?“
„Geschichten, so wie du?“
„Nein“, sag ich, „nicht wie ich. Bessere, richtig gute Geschichten, meine ich.“
„Woher soll ich das wissen.“
„Siehst du“, sage ich, „du weißt nicht, wer du bist.
Und weil du das nicht weißt, machst du nicht, was du bist.
Alles was du tust, ist grübeln und Schiss haben, und das ist völlig grund-verkehrt.
Damit versaust du dir doch den ganzen Tag. Und der ist ja vielleicht tatsächlich dein Letzter gewesen.“
Die Möwe war gerade von See gekommen.
Sie hatte der „Luise“, einem Fischkutter, eine ganz ordentliche Menge Hering geklaut und war eigentlich recht fröhlich.
Dann sah sie unter sich diese beiden Burschen auf der Bank sitzen und ihre gute Laune war wie weggeweht. Das ist doch nicht zu fassen, dachte sie.
Das kann doch wohl nicht angehen.
Da hängen sie wieder rum, diese blöden „Hilfsphilosophen“.
Trinken billiges Bier und erzählen sich allerhand Geschichten von Gott und der Welt und haben keine Ahnung von gar nicht.
Und, siehst du, jetzt zeigen sie zu mir hoch und nennen mich bestimmt wieder „Jonathan“ oder „Emma“, die Schlaumeier.
Sie reden gerne von uns.
Was die Möwen so alles können, und was sie alles nicht können.
Was die Möwen so alles tun und was die Möwen alles lassen.
Wie wunderbar frei und selbstbestimmt wir sind.
Ach, und wer von uns hat hier die Euros in der Tasche und kann sich unten am Stand ein Fischbrötchen kaufen?
Ich hab ja noch nicht mal Hosentaschen, ihr Penner!
Da kommt einem doch wirklich der Hering hoch, wenn du das siehst.
Die Möwe, die weder Jonathan noch Emma hieß, wurde richtig sauer.
Sie stieß senkrecht runter, gab ordentlich Gas und schoss direkt auf unsere Beiden zu.
Im letzten Moment drehte sie ab und drückte, was das Zeug hielt.
Der Schiss ging an den Jungs gerade mal so dreißig Zentimeter vorbei.
J.H.