Linie 451
„Sie
heißen Johannes Diehsel?“
„Hannes
Diehsel, nicht Johannes.“
„Gut
Herr Diehsel, dann erzählen sie uns doch mal Ihre Sicht der Dinge.“
„Meine
Sicht? Hier geht es um Prinzipien, um Tugenden, um Werte und nicht
um „meine Sicht“. Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Treue, Fleiß,
Korrektheit und Gehorsam. Und natürlich um die Größte unter ihnen,
die „Königsdisziplin“.
„Die
Größte?
„Die
Pünktlichkeit, natürlich.“
„Die
Pünktlichkeit?“
„Aber
sicher. Alle anderen Tugenden kann man erreichen, indem man die
jeweilige Untugend einfach ablegt. Die Pünktlichkeit aber, die ist
nur durch einen ständigen Kampf zu erlangen, denn wer sie will, der
hat eine hinterhältige Gegenspielerin.“
„Und
wer oder was sollte das Ihrer Meinung nach sein?“
„Das
ist die Zeit. Die scheint ganz geradlinig und berechenbar zu sein,
die läuft auch brav hinter einem her, wenn man ihr einen Schritt
voraus ist, aber wehe, du bist unachtsam, dann überholt sie dich,
lässt dich zurück und macht dich zum Gespött der Leute. Die ist
eine falsche Schlange, die man beherrschen muss. Ich
bin jetzt seit dreißig Jahren Busfahrer bei uns in Bocholt, auf
Linie 451, ich weiß, wovon ich rede.“
„Wann
ist Ihnen dies das erste Mal derart deutlich geworden, Herr Diehsel?“
„Wissen
Sie, ich hatte da schon immer so einen Verdacht. Aber an meinem
ersten Arbeitstag bei der BBV., ist bei mir endgültig der Groschen
gefallen. Ich war neunzehn. Mutter hatte die Uniform gründlich
ausgebürstet, das Hemd gebügelt und die Schuhe auf Hochglanz
poliert. Ich war pünktlich aufgestanden und alles hätte gut gehen
müssen, aber als ich meinen linken Schuh zubinden wollte, da riss
der Senkel so unglücklich, dass er nicht mehr zu gebrauchen war. Ich
war aufgeregt und brauchte geschlagene vier Minuten, bis das neue
Schnürband endlich eingefädelt war, und ich die Schleife gebunden
hatte. Ich bin aus dem Haus gestürmt, die Branderheide runter, aber
wie sehr ich mich auch beeilt hab, auf meinem Weg kamen von überall
immer noch ein paar Sekunden dazu. Dadurch kam ich mit sechseinhalb
Minuten Verspätung auf dem Betriebshof an. Die Busse waren so in
der Halle geparkt, dass sie nur der Reihe nach herausgefahren werden
konnten. Meiner war der Erste, und weil ich nicht rechtzeitig war,
hatten alle Linien an diesem Tag unglaubliche Acht! Minuten
Verspätung. Da hab ich mir geschworen, dass so was bei mir nie
wieder vorkommen würde.“
„Und,
haben Sie dieses Ziel erreicht?“
„Das
kann man wohl sagen. In den folgenden dreißig Jahren habe ich keine
einzige Minute mehr verloren, keinen Tag wegen Krankheit gefehlt und,
weil ich auch die Sorgfalt immer hochgehalten hab, hatte ich nie
einen Unfall.“
„Herr
Diehsel, bitte erzählen Sie uns doch einmal kurz Ihren Tagesablauf.“
„Daran
ist nichts Besonderes. 5:00 aufstehen, dann in die Küche den
Wasserkocher anstellen, ins Bad – 6 Minuten. 5:06 Kaffee aufgießen,
Uniform anziehen 4 Minuten, Frühstück 8 Minuten. Um 5:20 die Frau
zum Abschied auf beide Wangen küssen, verlasse das Haus, steige
auf`s Fahrrad und erreiche nach 10 Minuten um 5:30 das Busdepot.“
„Beachtlich,
Herr Diehsel. Gilt dies alles auch für Ihre Freizeit?“
„Aber
sicher, das gilt für alles.“
„Und
Ihre Frau hat Sie darin immer unterstützt?“
„Natasha?
Oh, ganz am Anfang nicht, aber die hat sich schnell eines Besseren
besonnen, das kann ich Ihnen sagen. Was hätte sie auch tun sollen,
so ohne Papiere und ohne Geld? Zurück nach Kasachstan vielleicht?“
„Herr
Diehsel, kommen wir nun zum vergangenen Freitag, dem Tag Ihres
Dienstjubiläums. War da auch alles so, wie immer?“
„Nein,
da war nichts, wie es sein sollte. Der Wecker hatte nicht geklingelt,
es war 5:04, als ich aufgewacht bin.. Vier Minuten zu spät. Ich hab
dann alles im Laufschritt erledigt. Hatte schon zwei Minuten wieder
gut gemacht, als ich feststellte, dass mein Hemd falsch geknöpft
war. Versuchte es erneut, aber die Knöpfe und die Knopflöcher
passten einfach nicht mehr zusammen. 3 Minuten minus! Schlüpfte in
die Hose, zog das Sakko über, und sah, dass beides völlig
zerknittert war. Ich hab nach meiner Frau gerufen: „Natasha, was
ist mit meiner Uniform passiert?“
„Keine
Ahnung, vielleicht hat Hund drauf geschlafen“, kam es zurück.
„Der
Hund? Was redest du da, wir haben keinen verdammten Hund. Und wo ist
meine Krawatte, ... ich kann die nicht finden.“
„Vielleicht
hat Hund sie gefressen!“
„Bist
du völlig verblödet? Wir haben doch gar keinen ...“ Ich wollte
meine Schuhe zu binden, aber die Schnürsenkel waren so sehr
verknotet, dass ich sie unmöglich entwirren konnte.
„Natasha,
du dummes Weibsstück! Komm jetzt her und hilf mir. Ich komm zu
spät!“
Aus
der Küche kam nur ein unschuldiges Pfeifen.
„Ich
kann gerade nicht. Muss nachsehen, ob Hund gut geht, wegen hat
gefressen deine Krawatte.“
Also,
ich bin wirklich ein feiner Kerl, da können Sie fragen, wen Sie
wollen. Ich bin nachsichtig und durch nichts so schnell aus der Ruhe
zu bringen, aber das war zu viel.
6
Minuten minus! Ich hab die Schnürbänder mit meinem Taschenmesser
zerschnitten, um überhaupt in meine Schuhe zu kommen.
„Du
bist heute spät dran“, hörte ich sie aus der Küche.
Ich
bin zur Küchentür gehumpelt: „Das warst Du!“ hab ich gesagt,
„Das
alles bist Du gewesen! Aber warte, Mädchen, wir sprechen uns
später.“
„Keine
Ahnung was meinst du.“
„Ich
werde dich umbringen, du ...“.
Sie
stand am Herd in ihrem fadenscheinigen Morgenrock, drehte sich zu mir
um und lachte mich aus. „Womit? Mit deine kleine Messerchen? Damit
kannst du genauso wenig ausrichten, wie mit deinem kleinen … “
„Sei
still! Sonst tue ich es wirklich.“
„Und
wann? Wann wirst du es tun, Herr Busfahrer, wann wirst du mich
umbringen?“
„Heute
Nachmittag, Punkt 14:55.“
„Herr
Diehsel, wann kamen Sie an diesem Tag nachhause?“
„Um
14:42.“
„Was
taten Sie?“
„Ich
ließ meine Tasche im Hausflur stehen und ging sofort hinters Haus in
den Werkzeugschuppen.“
„Was
wollten Sie da?“
„Den
Hammer holen.“
„Den
Hammer?“
„Ja,
ich hatte mich um 13:28 entschieden, dass ich sie mit dem
5-Kilo-Fäustel erledigen wollte. Zwei bis drei Schläge, dann den
Leichnam beseitigen. Zur Sportschau wäre ich zurück gewesen.“
„Es
lief nicht alles nach Plan, oder?“
„Nein.
Hören Sie, meine Werkstatt, ist eine Augenweide für jeden, der die
Ordnung liebt, aber meine Frau, die hatte ganze Arbeit geleistet.
Alle
meine Maschinen und Handwerkszeuge, Kabel und Gartengeräte lagen da
in einem wilden Durcheinander auf der Erde, und den Inhalt von
sämtlichen Schubkästen hatte sie drüber ausgeschüttet. Es war
14:46. Nur noch neun Minuten! Ich hab gewühlt, ich hab gesucht, ich
musste doch den Fäustel finden. Aber die Zeit rannte mir immer
schneller und schneller davon, es hatte keinen Sinn. Ich bin also aus
der Werkstatt gestolpert, ins Treppenhaus und die Stufen hoch, bis in
unsere Etage.“
„Warum?“
„Ich
wollte Natasha fragen, wo sie den Hammer gelassen hatte.“
„Was
geschah dann?“
„Die
Tür war nur angelehnt. Natasha stand am Ausguss und trocknete das
Geschirr ab. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr, dann sah sie
mich an und lächelte.“
„Ist
es richtig, Herr Diehsel, dass Sie Ihre Frau, nur wenige Augenblicke
später,
mit dem Nudelholz erschlugen?“
„Ja.“
„Und
jetzt, da Sie einige Zeit zum Nachdenken hatten, tut es Ihnen leid?
„Wie?“
„Tut
es Ihnen Leid, Herr Diehsel?“
„Ja.“
„Sie
bedauern also, dass Sie Ihre Frau umgebracht haben?“
„Nein.“
„Wie
soll ich das verstehen?“
„Es
war 14:57, und es war nicht der Fäustel“.
J.H.
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