Der Dümpel
Eduard Pedersen
war ein zufriedener Mensch. Er hatte sich in seinem Leben
eingerichtet. Nicht etwa, wie man sich bei einem schwedischen
Möbelhaus einrichtet, nur für eine gewisse Zeit, um dann bald alles
wieder neu zu machen.
Nein, seine
„Einrichtung“ war von fester, bleibender Qualität. Stabil genug
für ein ganzes Leben. Er hatte schon in jungen Jahren die höhere
Beamtenlaufbahn beim Finanzamt eingeschlagen, sich eine Schweizer
Armbanduhr und ein Jahresticket für den Bus gekauft. Der
Pünktlichkeit wegen.
Pedersen war mit sich und der Welt im Einklang
– bis zum 6. November 2010, einem Donnerstag, um 17:45.
Er hatte den Bus
wie jeden Abend nach Dienstschluss bestiegen, ein paar
Belanglosigkeiten mit Wilhelm Koslowski, dem Fahrer, gewechselt und
sich dann auf einen der hinteren Plätze nahe dem Ausgang gesetzt –
nur für den Fall.
Er hatte mit
geschlossenen Augen ein wenig vor sich hingedöst, als sich
unerwartet jemand mit einiger Mühe auf den Sitzplatz neben ihm
drängte. Es musste ein besonders beleibter Mensch sein. Aber es war
kein Mensch.
Es war ein
Riese.
Ein Riese, mit
einem weißen Gewand, der, obwohl er sich unbequem zusammenkrümmte,
immer noch mit dem Hinterkopf das Wagendach berührte. Er trug
goldene Sandalen und stützte sich auf mächtiges Schwert, an dem
bläuliche Flammen empor züngelten.
„Eduard, wir
müssen reden“, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die eigentlich
das Fensterglas hätte bersten lassen müssen. Nicht unerträglich
laut, aber machtvoll wie Kirchenglocken mit Orgelpfeifen gemischt.
„Wir?",
fragte Pedersen und sah sich um. Die anderen Fahrgäste schienen
nichts gehört zu haben. Sie nahmen eigentlich überhaupt keine Notiz
von dieser ungeheuerlichen Erscheinung.
„Ja Eduard,
wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.“
„Aber worüber
denn?“
„Über deinen
Lebenswandel, mein Lieber.“
„Über meinen
Lebenswandel? Aber damit ist doch alles in Ordnung. Ich kann mir
nicht vorstellen, was es daran zu bemängeln gäbe.“
„Schon klar,
dass du dir das nicht vorstellen kannst, mein kleiner, sauberer
Finanzinspektor.“
Pedersen nahm
Haltung an: „Wer oder was sind sie eigentlich, dass sie meinen,
mich hier belästigen zu dürfen?“
Der Hüne sah
ihn schräg von oben an: „Oh entschuldige, ich habe mich ja noch
gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Nathanael, und wenn du mich
„Nati“ nennen solltest, haue ich dir eine rein. Was ich bin,
willst du wissen? Oh, ich bin nur ein etwas zu groß geratener
Staubsaugervertreter, der luftig weite Gewänder liebt und wegen
seiner Schweißfüße mit goldenen Badelatschen herumläuft. Die
Flügel auf meinem Rücken und das Flammenschwert sind eigentlich nur
Staffage, da braucht man sich nichts weiter bei zu denken.“ Er
legte Eduard seine rechte Klodeckelpranke aufs Knie:“ Alles klar?“
In den Glockenklang seiner Stimme hatte sich ein leichtes
Donnergrollen gemischt.
„Sie sind also
tatsächlich ein ...", stotterte Pedersen.
„Ein Engel, ganz
genau. Ein richtig echter, naturbelassener Erzengel, um ganz genau zu
sein. Du kannst mich ruhig duzen, aber wehe, wenn du mich Nati
nennst.“
„Natürlich
nicht“.
„Natürlich
nicht, natürlich nicht!", donnerte Nathanael „ Mann, wie ich
diese Duckmäuserei hasse.“
„Wie?“
„Du bist ein
„Dümpel“, mein Freund. Ein echter, zahnloser Lauwarmdümpel.“
„Ich habe
keine Ahnung, was sie meinen, aber ich bemühe mich stets ein
ordentlicher ...“
„Dümpel zu
sein?“
„Nein, ein
ordentlicher Mensch zu sein“, sagte Pedersen.
Die Flammen an
Nathanaels Schwert loderten in einem wütenden dunkelrot: „Ein
Mensch willst du sein, du Ahnungsloser? Nein, du bist eine Schande
für das ganze Menschengeschlecht, ein Schlag ins Gesicht der
Schöpfung!“
„Aber ich bin
ein Mensch.“
„Du siehst
vielleicht aus wie einer, aber du bist nicht menschlich. Der Mensch
wurde als Mann und Frau erschaffen. Bist du eine Frau? Nein. Bist du
ein Mann? Auch nicht.“
„Aber natürlich bin ich ein ...“
„Rede keinen
Blödsinn! Der Mann ist ein Kämpfer, ein Krieger, ein Jäger. Einer
dem nichts egal ist. Einer, der selbst für die Ehre seines
Taubenzüchtervereins in den Krieg ziehen würde. Und vor allem,
einer der die Weiber liebt.“ Der Engel hob eine Augenbraue: „Und,
Eduard, bist du so einer?“
„Nein, aber
die Corinna ...“
„Die Corinna
hast du geliebt? Mensch Pedersen, das war in der Grundschule. Du hast
ihr ein peinliches Gedicht geschrieben, sie hat sich darüber lustig
gemacht und du bist heulend zu deiner Mutti gelaufen. Soviel zu
deinen Weibergeschichten.“
„Ich bin eben
für diese Dinge nicht gemacht.“
„Nicht
gemacht?", donnerte Nathanael, „jetzt soll wohl noch ein
Anderer für dein mickeriges Dasein verantwortlich sein, oder wie?
Was du bist, hast du selbst erschaffen, und das ist Blasphemie; so
was wird nicht geduldet.“
Der Engel hob
sein grausames Schwert und hielt es vor sich: „ Damit ist jetzt
Schluss.“
„Schluss?",
rief Pedersen und hielt seine Arme vor das Gesicht, „was soll das
heißen?“
„Das soll
heißen, dass mein Schwert jetzt deinem bedauernswerten Dümpel-Dasein
ein Ende bereiten wird. Erst werde ich deinen zarten
Bürokratenhintern in hauchdünne, rauchende Scheiben schneiden und
dann deine nutzlose Seele in die ewige Finsternis ...“
„Nein, bitte
nicht!", flehte Pedersen, „ ich kann mich ändern. Ich kann
ein richtiger Mann werden, ganz bestimmt. Wenn du mir dabei hilfst,
dann kann ich das.“
Der Engel warf
ihm einen verächtlichen Blick zu: „Ich soll dir helfen?“
„Ja bitte, nur
ein bisschen. Du bist doch ein Engel, du kannst das. Nur ein kleiner
Schubs in die richtige Richtung so zusagen.“
Nathanael
kratzte sich am Kinn: „Einen kleinen Schubs in die richtige
Richtung?“
„Ja, das wird
völlig ausreichen.“
Der Engel atmete
tief durch, dann drückte er seinen imposanten Daumen auf Pedersens
Stirn und sagte: „ O.K. mein Freund, aber wehe, wenn du das hier
vergeigst. Dann komme ich wieder.“
Für einen
Moment wurde um Pedersen alles in blendendes Licht getaucht, und als
er wieder sehen konnte, war der Engel verschwunden. Nur ein ganz
leichter Schwefelgeruch lag noch in der Luft.
Was für einen
verdammten Schwachsinn man doch so träumen kann, dachte Pedersen,
als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Er stand mühsam auf,
kratzt sich ausgiebig und schlurfte ins Badezimmer. Er klappte die
Klobrille herunter und wollte sich gerade hinsetzen, als er eine
leise Stimme hörte: „Ede, sei ein Mann.“ Pedersen drehte sich
um, klappte die Brille wieder hoch und pinkelte im Stehen.
Ein Anfang war
gemacht.
J.H.
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