Robinson
und Samstag
Der
Kies knirscht unter meinen Schuhsohlen, es ist ein breiter Weg.
Rechts und links sind Rhododendren gepflanzt.
Sie
sind mindestens fünf Meter hoch und bestimmt hundert Jahre alt. Das
sind nur vierzig Jahre mehr, als ich selbst bin – meine Güte.
Ich
kann Orte wie diesen nicht leiden, obwohl sie oft die lebendigsten
und blühendsten Plätze in den Städten sind. Es gibt sie nur, weil
es den Tod gibt, darum mag sie nicht.
Sie sind niemals kühl, sondern
immer kalt und zugig, selbst, wenn überall in der Stadt Hochsommer
herrscht. Eine Merkwürdigkeit, aber irgendwie doch passend.
Am
Ende des Weges hockt ein wuchtiger Klotz aus Backsteinen, der an
einen Luftschutzbunker erinnert.
Der Weg führt direkt auf die
Freitreppe vor diesem Gebäude zu, und die Rhododendren machen ein
Ausbrechen unmöglich; Fluchtwege gibt es nicht.
Ein mageres Kreuz
ist an der Stirnseite des Bunkers angebracht, aber es kann mich
genauso wenig trösten, wie der verblichene Bibelvers darunter.
Ich
bin spät dran und die eisenbeschlagenen Türen haben sich wohl schon
seit einigen Minuten hinter der Trauergesellschaft geschlossen. Ich
will mich nicht hineinschleichen, sondern gehe lieber hinter das
Gebäude, wo die öffentlichen Toiletten sind und die Leichenwagen
stehen.
Ich stecke mir eine Zigarette an.
Marlene,
denke ich, Marlene Schimke.Geboren
am 9. Oktober 1950 gestorben am 17.Juli 2010, so wird es wohl auf
ihrem Stein zu lesen sein.
Ich war siebzehn, als sie mit ihrem Vater
in unsere Nachbarschaft zog.
Er war Hauptschullehrer und hatte sich,
nach der Trennung von Marlenes Mutter (der alten Schlangenhure, wie
Marlene sie nannte), hierher versetzen lassen. Marlene kam am 26.
September 1967 in unsere Klasse, nicht lange vor ihrem siebzehnten
Geburtstag. Als ich sie das erste Mal sah, passierte etwas mit mir,
das ich bis heute nicht erklären kann. Ich saß da, wie ein Depp mit
offenem Mund, solange bis mein Kumpel Hannes neben mir mich in die
Seite boxte und sagte: „Du wirst dir noch auf`s Hemd sabbern,
Mensch.“ Ich riss mich zusammen, denn es war mir peinlich, so
erwischt worden zu sein, aber wie ein Zauber oder Fluch hatte mich
etwas ergriffen, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Neben Marlene
wirkten die ganzen anderen „Hühner“ wie trockener
Schiffszwieback. Auch wenn sie sich aufreizend kleideten, die Augen
schwarz bemalten und in den Pausen mit ihren knallroten Mündern
Zigaretten pafften. Ihr ganzes Gehabe versprach einfach nur Dinge,
von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten. Bei Marlene war es
ganz anders. Sie kleidete sich unscheinbar, ja geradezu bieder, mit
ihren Faltenröcken und den gestärkten Blusen. Sie trug auch nie die
Haare offen, oder sogar toupiert wie all die anderen Gänse. Aber sie
strahlte etwas aus, das mir sagte, sie würde alle Versprechen
halten, die ich mir erträumte.
Sie
saß drei Reihen vor mir und ich verbrachte meine Vormittage damit,
in ihre Nackenhärchen zu träumen. Mein bester und einziger Freund
Hannes zog mich oft damit auf. „Robinson, mein Alter, wenn du der
Kleinen weiterhin so hinterher schielst, wirst du den Rest deiner
Tage alles doppelt sehen. Das kriegt man nie wieder richtig.“ Wir
kannten uns schon seit der vierten Klasse, und er nannte mich
„Robinson“, weil ich schon immer einen Hang zur Einsiedelei
hatte. Als ich ihn daraufhin „Freitag“ nennen wollte, wehrte er
ab:„ Nee Robinson, ein „Freitag“ bin ich bestimmt nicht. Da ist
doch nichts los. Ich bin auf jeden Fall ein „Samstag“. Der
schläft immer lange aus, am Nachmittag laufen immer die besten
Spiele und am Abend geht`s dann erst richtig los. Wenigstens, wenn
wir etwas größer sind.“ So wurden wir Robinson und Samstag, die
besten Kumpel, obwohl wir so unterschiedlich waren, wie Huhn und
Hase. Ich, Robinson Erwin Eisenbach war in allen Fächern immer einer
der Besten, von Sport und Werken einmal abgesehen. Ich las alles von
Karl May und Jules Verne und bemalte Zinnsoldaten. Ich war mager und
meine Haut war von aristokratischer Blässe, denn ich mied den
Sonnenschein fast genauso sorgfältig, wie den Kontakt zu anderen
Menschen. Meine Mutter und Hannes natürlich ausgenommen. Er, Hannes
„Samstag“ Jäger war schon mit drei Jahren nur auf dem Hinterrad
mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und so blieb es. Er wurde zum
besten Sportler unserer Schule und der breitschultrige Schwarm aller
Mädchen, was ihm allerdings nicht viel bedeutete. Wir waren wie
Brüder, bis Marlene mich eines Tages fragte, ob ich ihr nicht
Nachhilfe in höherer Mathematik geben würde …
Ich
verscharre meine Zigarettenkippe im Kies und mache mich auf zu den
Leichenwagen. Mal sehen, ob die wohl Radios eingebaut haben. Hinter
mir höre ich Schritte, die sich nähern.
“Erwin
bist du das?", sagt eine Stimme, die ich ewig nicht gehört
habe. Die Schritte sind jetzt ganz nah: "Erwin?“
Ein
Schaudern läuft über meinen Rücken, ich drehe mich um: „ Ja,
mein Name ist Erwin. Erwin Eisenbach.“
Vor
mir steht ein alter Mann. Immer noch groß, aber sehr mager und
faltig, mit grauen Stoppeln im Gesicht.
Seine
Augen leuchten mich an, er hat einen Tropfen an der Nase, den er mit
dem Ärmel wegwischt.
„Erwin,
he Robinson, weißt du nicht mehr, wer ich bin?“
Ich
muss mich räuspern:„Nein, tut mir leid.“
Er
macht einen Schritt auf mich zu und will nach meiner Schulter fassen:
„Mensch Erwin ...“.
Ich
weiche vor ihm zurück, und er greift ins Leere.
„Ich
bin`s Erwin, Hannes.“
„Wer?“
„Ich
bin Hannes. Hannes „Samstag“ Jäger.“
Ich
schüttele den Kopf: „ Nein, das ist nicht möglich. Mein Freund
Hannes Samstag ist schon lange tot.“
„Tot?
So ein Quatsch! Erwin, ich bin`s wirklich. Dein alter Kumpel Samstag.
Ich bin nicht tot, sieh mich doch mal an.“ „Halten sie den Mund!
Ich brauche sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie ein Lügner
sind. Mein Freund Hannes starb an einem Sommerabend im Jahre 1968.“
„Woran
ist er denn gestorben?“
„Er
küsste die Tochter einer Schlangenhure und starb daran.“ „Aber
wo, Erwin, wo bin ich denn dann begraben, wenn ich wirklich tot sein
sollte?“
„Hier“,
sage ich und deute auf meine Brust. Ich gehe an ihm vorbei, den
Kiesweg entlang auf das große Eingangsportal zu.
„Sollen
doch die Toten ihre Toten begraben“, denke ich und wische mir einen
Tropfen von der Nase.
J.H.
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