Das
Knochenmärchen
Sie saß
einfach an diesem Morgen an unserem Küchentisch.
Damals
im „Künstlerbunker“, einem dreistöckigen Altbau in der
Schillergasse, wo sich die „bunte Szene“ eingenistet hatte.
Ich
kannte sie nicht, aber wir hatten ständig Besuch von irgendwelchen
Leuten. Vielleicht war sie die neueste Eroberung von einem meiner
Mitbewohner, vielleicht war sie auch nur von der letzten Party übrig
geblieben.
Sie war
hübsch, wenn einem blonde Püppchen mit weißer Bluse und Faltenrock
gefielen.
Ich
rückte einen benutzten Becher zu ihr hin, um zu sehen, ob sie ihn
annehmen würde. „Kaffee?“ sagte ich.
„Oh
ja, bitte“, sie wischte ein paar Krümel beiseite.
Ich
griff „Omas Familienkanne“, ein Monstrum, mit drei Litern
Fassungsvermögen und einem Reichsadler auf dem Boden,
schenkte
ihr ein und kleckerte absichtlich etwas auf die ohnehin schon
fleckige Tischdecke.
Sie
trug karierte Kniestümpfe von Burlington und flache Lederschuhe mit
kleinen Bommeln oben drauf.
„Milch
und Zucker?“ fragte ich.
„Nur
Milch, bitte.“
„Die
ist im Kühlschrank, musst du dir eben selber nehmen.“
Dass
die Milch im Kühlschrank war, wusste ich. Was sich da sonst noch so
herum trieb, wollte ich lieber nicht wissen.
Sie
stand auf, und ich bemerkte, dass sie recht ansprechende Kniekehlen
hatte. In ihrer Aufmachung hätte sie gut in eine Bankfiliale oder
ins Finanzamt gepasst.
Sie
öffnete die Kühlschranktür, nahm die Milch heraus und schloss sie
wieder. Der Entsetzensschrei, auf den ich gewartet hatte, blieb aus.
Den
Kühlschrank nannten wir nur die „Kammer des grunzenden Schimmels“,
und es ging unter Eingeweihten die Rede, man solle sich wenigstens
mit einem Knüppel bewaffnen, bevor man die Tür öffnete. Sie goss
die Milch, die ausnahmsweise mal nicht in fettigen Klümpchen aus der
Tüte gestolpert kam, in ihre Tasse.
Ich
kramte meine Pfeife hervor und stopfte sie mit meiner Privatmischung
aus fünf verschiedenen Tabaksorten und einer Prise von dem „Kraut
das fröhlich macht“. Wer sich auskennt, weiß wovon ich rede.
„Wie
heißt du?“ fragte ich.
„Karina,
und du?“
„Jean
Henri“, ich hatte meinen Namen ein wenig meinem Künstlerstatus
angepasst.
„Wohnst
du hier?“ sie hielt ihre Tasse in beiden Händen und starrte
hinein.
„Ja,
ich bin einer von den Wenigen, die hier nicht „vorübergehend“ zu
Gast sind, und sogar ein Wenig Miete zahlen.“
„Dann
bist du also auch ein Künstler?“
„Ach,
so würde ich das nicht nennen, ich ziehe den Begriff „kreativ“
vor. Ich bin nur ein Kreativer, ein Schaffender.“
„Und
was machst du, Malerei?“
Ich zog
an meiner Pfeife und erzeugte ein paar gelangweilte Nebelschwaden.
„Hm“,
sagte ich, „was die Musen angeht, bin ich durchaus für die
Vielweiberei. Je nachdem, welche von ihnen dran ist, male ich oder
haue etwas in Stein. Manchmal schreibe ich, und wenn mir das alles zu
langweilig wird, dann mache ich Musik, um den Kopf wieder frei zu
kriegen. Und du, was machst du so?“
„Ich
bin bei den Stadtwerken im Büro. Ich bin verantwortlich für die
Abrechnungen – Gas, Wasser und so.“
Ich
hätte mich totlachen mögen, weil meine Vermutung so dicht an der
Wahrheit gewesen war.
Eine
„Büroschnecke“ oder besser: eine „Biedermeier - Büroschnecke“
hatte sich in unsere Küche verlaufen!
„Na
ja“, sagte ich, „ solche Arbeit muss ja auch gemacht werden.“
Sie
nahm einen Schluck Kaffee: „Es ist nicht so schlecht da. Man
verdient sein Geld, und alle zwei Jahre wird man befördert.“ Sie
sah zu mir herüber : „Ein schönes Armband hast du da. Ist das
selbst gemacht?“
Sie
hatte recht, das Armband an meinem linken Handgelenk war wirklich
gelungen. Muschelstückchen und durchbohrte Klumpen von grünem Glas.
Ich hatte es auf dem Flohmarkt erstanden.
„Ja“,
sagte ich, „ist selbst gemacht, aber ich will nicht weiter darüber
reden.“
„Wieso
nicht?“
„Es
würde dich schockieren, wenn ich dir erzähle, wie ich es gemacht
habe, und das will ich nicht.“ Ihre Aufmerksamkeit hatte ich,
soviel war sicher.
„Warum
sollte es mich schockieren? Es ist doch nur Glas und weiße Steine,
oder Muscheln.“
„Von
wegen“ , sagte ich, „Glas stimmt, aber das Weiße sind bestimmt
keine Muscheln.“
„Nein?
Was ist es denn dann?“
„Knochen.“
„Was
für Knochen?“
„Affenknochen.“
„Affenknochen?“
“Von
einem Rhesusäffchen.“
„Wie
kommt man denn an so was?“
Ich
schüttelte den Kopf: „Es würde dich erschrecken, glaube mir.“
„Ich
erschrecke mich bestimmt nicht, los, sag schon.“
„Also
gut. Ich habe den Affen im Internet bestellt. Das war ganz
unproblematisch, und teuer war der auch nicht – vierzig Euro, oder
so.“
„Und
was wolltest du mit dem?“
„Ich
hatte gelesen, dass Rhesusäffchen ganz besonders kluge Tiere sind.
Und da wollte ich mal etwas ausprobieren.“
„Ausprobieren?“
„Ich
wollte ihm etwas beibringen.“
„Und
was?“
„Sprechen.
Ich wollte, dass er sprechen lernt, und vielleicht hätte ich ihm
dann später auch das ein oder andere Volkslied beigebracht.“
„Und?“
„Hat
nicht funktioniert. Das blöde Vieh hat nur rumgekreischt, alles
mögliche kaputt gemacht und auf mein Bett gepinkelt.“
„Und
dann?“
„Ich
habe es ganze zwei Tage versucht, dann hatte ich die Nase voll. Kein
Wort wollte er sprechen, der absolute Fehlkauf war das.“
Karina
rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, und es war klar, dass
ihr langsam Mulmig wurde. Aber ihre Neugier war stärker.
„Hast
du ihm einen Namen gegeben?“
„Coco,
ich habe ihn Coco genannt, es gibt da so eine Sendung im Kinderkanal.
Ich fand das ganz passend.“
„Und
… was hast du dann mit … Coco gemacht?“
„Was
ich gemacht habe, was ich gemacht habe … ich glaube nicht, dass du
das wirklich wissen willst.“
„Doch, ich will das wissen, bestimmt.“
„Doch, ich will das wissen, bestimmt.“
Tja,
Karina, du kleine fliederweiße Büropomeranze, dachte ich, dann mach
dich mal auf was gefasst.
Ich
beugte mich vor, sah ihr direkt in die Augen und ließ meine Stimme
zu einem düsteren Flüstern werden: „Ich habe ihn gefangen. Mit
Bananenstückchen habe ich einen Pfad durch mein Zimmer gelegt, bis
ganz dicht an meinen Stuhl. Der Affe war vorsichtig, aber auch
verfressen und lange nicht so schlau, wie ich geglaubt hatte. Ich
verhielt mich unbeteiligt und habe gewartet. Er kam näher und
stopfte die Bananen in sich rein. Er war nervös, ist immer wieder
zurückgewichen und hat in die Luft geschnuppert, als ob er eine
Gefahr wittern wollte. Dann war er nahe genug. Ich habe blitzschnell
nach ihm gegriffen, seine Beine erwischt und ihn dann sofort drei
mal, Bam! Bam! Bam! mit dem Kopf auf die Tischplatte geschlagen. Er
hat nicht viel gespürt, glaube ich. Die Schädelsplitter habe ich
behalten und für das Armband verwendet – den Rest habe ich in
meinem Ofen gestopft und verbrannt. In meiner Bude stinkt es immer
noch danach.“
Die
gute Karina hatte um die Nase herum etwas Farbe verloren, und die
Kaffeetasse zitterte in ihren Händen.
„Aber
das ist ja schrecklich“, sagte sie.
Ich
stopfte meine Pfeife nach: „ Er hat es nicht anders verdient, hätte
ja sprechen lernen können, der Blödmann. Du wolltest es wissen,
jetzt weißt du es.“
Sie
nahm einen großen Schluck aus ihrer Tasse: „ Du hast ihn
umgebracht. Du hast dem armen kleinen Coco adoptiert, ihm sogar einen
Namen gegeben und ihn dann auf so kaltblütige Art erschlagen ...und
dann, dann hast du auch noch aus seinen Knochen ein Armband gemacht?“
Ich
zuckte mit den Schultern.
„Du
...“, sagte sie, „du bist wirklich ... „
„Was
bin ich?“
Sie sah
auf ihre Schuhe : „Du bist wirklich ein Künstler.“
„Wie?“
„Jean“,
sagte sie, „ schenkst du es mir?“
„Was
meinst du, das Armband?“
Sie
legte den Kopf zur Seite und schenkte mir einen verträumt
glitzernden, himmelblauen Blick.
„Hinterher,
meine ich“ sagte sie und öffnete einen Knopf an ihrer
weiß-gestärkten Bluse.
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