Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Sonntag, 8. September 2013

Ein kurzer Sommer mit Julia

Ein kurzer Sommer mit Julia

Ich habe mir eine Bank gesucht, am Wanderweg, vor einer schützenden Hecke.
Man hat von da aus einen schönen Blick aufs Meer, und man hat seine Ruhe.
Es ist selten viel los da.
Nur ein Fußweg und eine Wiese trennen mich vom Wasser.
Es ist schon elf Uhr am Vormittag, aber es ist diesig, und die Sonne kann sich nicht so recht durchsetzen.
Ein Hund kommt um die Ecke und rennt auf die Wiese.
Eine hässliche, schwarze Labrador Hündin mit langen, schlenkernden Zitzen.
Sie humpelt und macht komische Bewegungen beim Gehen.
Vielleicht hatte sie einen Unfall, oder sie ist schon so alt, dass der Schlaganfall sie erwischt hat.
Egal, Hauptsache, sie entdeckt mich nicht und sabbert mir auf die Hose.
Ich kann mir echt nicht vorstellen, wie man so eine unansehnliche Töle zuhause haben will.
Ein Mädchen betritt die Wiese, sie hat wohl eine Leine in der Hand, und noch etwas anderes, vielleicht ein Stöckchen, oder so.
Sie ist noch ziemlich weit weg, aber ich erkenne, dass ihre dunklen Locken fast bis zur Hüfte reichen.
Wohl das Frauchen von dieser humpeligen Hundedame.
Sie trägt eine kurze Hose mit langen Beinen drunter.
Ich schaue kaum hin, es interessiert mich nicht weiter – ich stehe mehr auf Blondinen.
Die Sonne verdrängt langsam den Hochnebel und der Himmel wird klar.
Leute mit komischen Hunden ähneln auch meistens ihrem Tier, da würden in diesem Fall auch die langen Beine nichts mehr retten.
„Quasimoda“ sollte ich den sabbernden Pelzhaufen nennen, frei nach dem buckligen Glöckner von Notre Dame.
Genau, und wie heißt wohl das Frauchen?
Nach der knappen Hose zu urteilen, wahrscheinlich Chantal oder Chanine, oder irgendwas, was sie selbst kaum buchstabieren kann.
Aus der Rubrik „ schwer geschminkt, und leicht zu haben“, haha.
Ein Spaziergänger kommt vorbei.
Er trägt einen braunen Anzug und dazu blaue! Joggingschuhe, verdammt.
Das Meer ist ruhig heute.
Ein Lotsenboot schiebt eine dicke Bugwelle vor sich her, lautlos, der Wind ist ablandig.
Das Mädchen wirft das Stöckchen, und die hinkende Hundedame versucht es zu fangen – ein jammervoller Anblick.
Ich muss mich verbessern, das Mädchen hat doch nicht so viel Ähnlichkeit mit ihrem geifernden Haustier, wie ich zuerst gedacht hatte.
Ihr Gesicht kann ich noch nicht erkennen, dafür ist sie zu weit weg, aber was ich von ihr sehen kann, könnte mir unter Umständen schon gefallen.
Nein, ich schüttele den Kopf und sehe lieber wieder aufs Meer hinaus.
So ein Mädel käme nicht infrage, auch wenn sie keine Familienähnlichkeit mit ihrer fusseligen Freundin hat.
Dann hat sie eben ein Herz für all die armen Vertreter der gefallenen Schöpfung, und bestimmt jede Menge einbeinige Karnickel, oder milieugeschädigte Wellensittiche zuhause – nein danke.
Allein, wie es bei ihr in der Wohnung wohl riecht?
Sie wirft das Stöckchen, und unter ihrem Top wippt es kaum nach.
Bestimmt alles voller Katzenhaare in der Bude, denke ich, und muss einen Niesreiz unterdrücken.
Die beiden sind näher herangekommen.
Das Mädchen trägt eine große Sonnenbrille – vielleicht schielt sie, oder ist ein Albino.
In Ihrem Fall müsste es dann wohl „Albina“ heißen.
„Quasimoda und Albina“, ich sollte eine Geschichte über die beiden schreiben, ein Jugendbuch, so wie Hanni und Nanni.
Der erste Band hieße dann wohl „Quasimoda und Albina gegen den fiesen Kammerjäger“.
Gibt es Albinos mit braunen Locken?
Es ist wirklich schade, dass ein hübsches Ding wie sie für mich nicht infrage kommt.
Nein, nicht bei diesem unsympathischen Anhang jedenfalls.
„Hallo, Du, da!" sie winkt in meine Richtung.
Sie wird jemand anderes meinen, ich sehe einer trägen Möwe hinterher.
„He!“ sie stapft durch das Gras direkt auf mich zu.
Sie trägt Gummistiefel zu ihrer kurzen Hose und wahrscheinlich keine Socken.
Davon kriegt man Stinkefüße, wie meine Mutter sagen würde.
„He, hast du eine Uhr dabei?“ ruft das Mädchen mit den Stinkefüßen.
Ich drehe mich zur Seite, aber da ist sonst niemand.
Eine Lachmöwe segelt über uns hinweg.
„Hast du eine Uhr?", ruft sie und nimmt ihre Sonnenbrille ab.
Mich trifft der Schlag, ich kenne sie!
Sie heißt Julia und ist erst kurz vor den Sommerferien an unsere Schule gewechselt, eine Klasse über mir.
Ich war bisher nie in ihre Nähe gekommen, aber es kursierten schon nach der ersten Woche allerlei Gerüchte über sie.
Die Mädchen zischten ihren Namen und die Jungen verdrehten sehnsuchtsvoll die Augen, wenn das Gespräch auf sie kam.
„Wer ich?", frage ich vorsichtig.
„Ja klar“, sie hebt die Arme, „siehst du hier sonst noch jemanden?“
Der unnütze Köter hat sich nun auch auf den Weg gemacht und schlenkert hinter ihr her.
Die beiden kommen immer näher.
„Ja, ich habe eine Uhr“.
„Und?", sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch.
„Was meinst du?“
„Wie spät es ist, meine ich“.
„Oh, gleich Viertel nach zwölf“.
„Danke, war doch gar nicht so schlimm, oder?“
Die Labrador-Lady scheint sich über meinen Anblick zu freuen, denn sie wedelt, was das Zeug hält, und setzt sich direkt auf meine Füße.
Das Mädchen schenkt mir ein blütenweißes Lächeln.
„Sieh mal, die alte Milli mag dich, du musst ein echter Tierfreund sein. Sie hat ein todsicheres Gespür dafür. Dürfen wir uns ein wenig zu dir setzen?“
„Oh ja, sicher", sage ich, „klar.".
„Wir sind ein wenig verschwitzt vom Spielen, ich hoffe das macht dir nichts aus“.
Sie setzt sich, und ich bemerke, dass sie von oben bis unten von winzig kleinen Schweißperlen bedeckt ist, die in der Sonne wie zarter Raureif auf ihrer gebräunten Haut funkeln. Ich müsste verrückt oder kastriert sein, wenn mich dieser Anblick stören würde.
„Du magst Hunde, oder?“
„Auf jeden Fall“, lüge ich, „aber nicht nur Hunde. Ich liebe alles, was zwei oder vier oder noch mehr Füße hat. Haha, oder auch Federn oder Krallen, ganz egal“.
Ich tätschele Milli den Kopf, und sie beginnt begeistert meine Hand abzuschlecken – widerlich.
„Das ist schön“, sagt das Mädchen, „ich bin übrigens Julia.".
„Ich weiß“, rutscht es mir heraus, „ich bin Thomas“.
„Du weißt, ... du kennst meinen Namen?“
„Äh ja, ich gehe auch auf die Heine-Schule. Die ist ja nicht so besonders groß, da weiß man ja schnell, wenn jemand Neues dazu gekommen ist.“
Julia dreht sich ein wenig weiter in meine Richtung und mustert mich von oben bis unten.
„Moment mal, du heißt Thomas, gehst in die Heine-Schule und du sitzt hier ganz alleine mit ein paar Schreibutensilien. Wie heißt du mit Nachnamen?“ sie klingt, als wäre sie ganz kurz davor, ein wichtiges Geheimnis zu lüften.
„Johnson“.
„Thomas Johnson?“
„Ja“.
„Ha, dann bist du der, den sie den „kleinen Hemingway“ nennen. Der, der für die anderen immer die Aufsätze schreibt.“
„Nun ...“ versuche ich zu entgegnen.
„Und du bist der, der mit einer seiner Geschichten, für unsere Schule letztens einen Preis gewonnen hat. Mann, das ist klasse.“
Sie scheint mit ihrer Kombinationsgabe sehr zufrieden.
„Na ja, ich schreibe eben ganz gerne, und manchmal kommt eben auch zufällig irgendwas Brauchbares dabei raus. Aber einen „kleinen Hemingway“ nennen mich nur die, die mich nicht besonders gut leiden können.“
„Ach was“, Julia schüttelt mit dem Kopf, „du sitzt hier mit deinem Schreibzeug, während die anderen in der Badeanstalt sind. So was machen nur echte Schriftsteller, glaub mir“.
Mein Fuß ist heiß von dem Hundehintern, der darauf sitzt, von meiner rechten Hand tropft der Sabber, und neben mir sitzt eine leicht verschwitzte Schönheit, die mich offensichtlich interessant findet. Ich muss unbedingt sofort aufwachen, das kann nur ein Traum sein, das gibt es nicht in der realen Welt!
Julia rückt näher heran und sie riecht wie eine Meeresbrise, die durch einen Orangenhain weht.
„Und, Thomas Johannson, was schreibst du da so die ganze Zeit?“
„Nichts Besonderes.“
„Ich meine, worüber hast du heute so geschrieben?“
„Über alles und nichts. Über alles, was so um mich herum passiert.“
„Um dich herum? Dann hast du auch über Milli und mich geschrieben? Ja? Los zeig mal“.
Sie greift nach meiner Kladde und reißt sie mir aus der Hand.
„Nein, warte!", rufe ich, aber es ist zu spät.
Julia hüpft wie ein Gummiball über die Wiese und freut sich über ihre Beute.
Dann beginnt sie zu lesen …



Die Kollegen fanden diese Zeilen, als sie das Zimmer von Thomas J. durchsuchten.
Es stellte sich heraus, dass er sie einen Tag vor seinem Verschwinden geschrieben hatte. Eine Woche später wurde sein aufgedunsener Leichnam unterhalb von Husum angespült. Wir konnten uns keinen rechten Reim auf den Zustand seiner sterblichen Überreste machen.
Seine rechte Hand wirkte wie abgebissen, ebenso seine Nase und seine Ohren.
Die Brust schien von scharfen Klauen zerfurcht, und wenn wir auch versuchten zu glauben, dass er Bekanntschaft mit einer Schiffsschraube gemacht hatte, so gab uns doch etwas ein gewaltiges Rätsel auf.
Seine Geschlechtsteile fehlten, obwohl er eine intakte Hose trug.
Die letzten Zweifel an einem tragischen Badeunfall wischte dann der Obduktionsbefund vom Tisch.
Der Tod war nicht durch diese Verletzungen, sondern durch einen Kugelschreiber eingetreten, den man ihm ins linke Auge gerammt hatte.
Es war sein Eigener.
Ich nahm Kontakt zu Julia H, dem Mädchen, von dem Thomas geschrieben hatte, auf.
Es war keine Vorladung, nur ein Gespräch.
Wir trafen uns an der gleichen Bank, auf der sie, nach der Beschreibung, mit dem Opfer gesessen haben musste. Ein kleiner psychologischer Vorteil meinerseits, wie ich hoffte.
Sie kam, und es war, als durchlebte ich genau die Zeilen, die der „kleine Hemingway“ geschrieben hatte.
Sie stapfte und hüpfte mit ihren Gummistiefeln durch das Knöchel hohe Gras, sie trug die gleichen, kurz abgeschnittenen Jeans, und ihre braunen Locken spielten um sie herum. Sogar der Hund war da. Ein altes Labrador Mädchen von wenigstens zwölf Jahren.
Julia setzt sich neben mich auf die Bank und schenkt mir ein blütenweißes Lächeln.
„Wir waren es nicht, Herr Kommissar. Wir haben ihm nichts getan“, sagt sie, und ich betrachte die vielen nebelfeinen Schweißtröpfchen, die ihre braunen Schultern bedecken.
„Sehen Sie“, sagt sie und streicht ihre Locken zurück, „ Milli kann ihn nicht so zugerichtet haben, sie hat ja kaum noch Zähne. Und ich? Glauben Sie denn im Ernst, ich könnte mich in so eine Furie verwandeln? Eine, die einem armen Jungen einen Kugelschreiber ins Auge stößt, ihm mit ihren Krallen die Brust zerschneidet, und ihm zum Schluss sein bestes Stück abbeißt und es in diese Mülltonne da neben ihnen spuckt?“
Ich versuche mit meinen Augen nicht dieser kleinen Schweißperle zu folgen, die gerade in ihren Ausschnitt kullert.
„Glauben Sie, dass ich so eine bin?“
Sie ist mit ihrem Mund sehr nahe n meinem Gesicht, und ihr Atem riecht nach Anis und frischer Minze.
„Glaubst du wirklich, Herr Kommissar, dass ich so eine bin?“
Sie kann all diese Einzelheiten nicht wissen, geht es mir durch den Kopf, wir hatten diese Informationen unter Verschluss gehalten ...
Sie legt ihren Arm um meinen Nacken.
„Sag schon, glaubst du, dass ich so eine bin?“
„Nein.“
„Und du wirst auch nicht deine Pflicht tun und die Mülltonne untersuchen?“
„Nein“.
„Dann ist es gut“, sagt sie und haucht mir ein Küsschen auf die Wange, "dann ist es gut.“
Sie geht, und mir bleibt ein Atemzug von einer Meeresbrise, die durch einen Orangenhain weht.


J.H.



Montag, 31. Dezember 2012

Dürfen Christen traurig sein?

Dürfen Christen traurig sein?


„Was für eine dumme Frage!“, sagt einer der Brüder, „Natürlich nicht! Die Freude am Herrn ist unsere Stärke, mein Lieber,“ er schlägt mir auf die Schulter, „immer fröhlich. Immer immer fröhlich ... Wir glauben schließlich, dass wir in Gottes Herrlichkeit eingehen. Oder?“
Er sieht mir in die Augen: „Oder?“
Ich nicke, weil er mir sonst vielleicht den Arm bricht.

Ein Freund, der meine Überzeugungen noch nie teilen konnte, sagt: „Ach, wein´ doch ruhig, heul` dich aus, du hast allen Grund dazu. Erst dieser Verlust, und jetzt auch noch die Enttäuschung, dass es dir trotz deines Glaubens kein Bisschen besser geht, als jedem Anderen.
Was ist das für ein Gott, der dich allein lässt in deinem Elend? Es ist alles frommer Unsinn. Ich habe es gewusst. Ich hab`s immer gewusst, aber du wolltest ja nicht auf mich hören.
Ich nicke, damit er den Mund hält. Vielen Dank, für die Anteilnahme.

Ich gehe in Gottes Ewigkeit, ich gehe nachhause - wenn ich gehe. Meine Zeit hier auf der Erde, ist nur ein Teil meines Lebens, aber kommt der Begriff „Trauer“ deshalb in Gottes und meinem Vokabular nicht mehr vor?

Stellt euch einmal vor: Da gibt es eine Pier.
Eine Pier, von der früher die Ozeanriesen in die „Neue Welt“ abgelegt haben.
Denkt euch, an diesem Kai gäbe es einen Passagierdampfer, aber anstatt ins Land der Wolkenkratzer, fährt dieser in die Ewigkeit.
Der „Dicke Pott“ macht an der Columbuskaje fest.
Rauch quillt dicht und weiß aus seinem Schornstein und das Tuten seines Nebelhorns lässt die Kaje erzittern. Die Möwen kreischen, die Ankerkette rumpelt gegen die Bordwand, die Gangway wird heruntergelassen.
Einer von uns geht an Bord.
Kein Koffer, kein Blick zurück.
Wir stehen am Ufer. Wir schauen zu, und winken.
Die Luft ist salzig, es riecht nach Brackwasser und feuchtem Tauwerk.
Ein Schifferklavier stimmt „Welch ein Freund ist unser Jesus“ an, und einer erinnert sich an die letzten Wochen.
Er denkt an Neonlicht, an Infusionen, an Katheter, Bettpfannen, den Geruch von Desinfektionsmitteln und an - Hilflosigkeit. Aber das ist jetzt alles vorbei.
Endgültig vorbei.
Kein Küchendunst im Fahrstuhl mehr, keine Gesundheitslatschen, die über die Gänge quietschen. Kein dritter Stock, wo die hoffnungslosen Fälle liegen.
Es ist vollbracht – Gott sei Dank!
Seine Erleichterung bricht aus ihm heraus: „Seht nur,“ er läuft auf der Kaimauer entlang und seine Stimme will sich überschlagen, „Seht! Es ist geschafft! Jetzt wird alles gut! Jetzt kann ihm nichts Schlimmes mehr passieren – gute Reise, mein Freund, gute Reise! Und grüß `mir die Lieben schön!“

Jesus nickt ihm zu – und lächelt. Er hat teuer für diese Passage bezahlt.

Einem Anderen fällt das Winken schwer.
So schwer, dass er seine Hand sinken lässt, sich umdreht, den Kragen hochschlägt und seine Hände bis an die Ellenbogen in den Manteltaschen vergräbt. Es ist alles logisch, es ist alles wahr, aber es ist auch alles viel zu groß.
Er meint, seinen Atem vor dem Gesicht zu sehen. Ist es tatsächlich Mitte August?
Er geht, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen. Sein Blick klebt an den Spitzen seiner Sonntagsschuhe. Ein Tropfen sammelt sich an seiner Nasenspitze, seine Brust wird eng und sein Magen zieht sich zusammen. Der Wind ist schuld. Der treibt einem die Tränen in die Augen.
Nur weg hier, weg!

Er hört Schritte, die ihm nachlaufen.
Jemand bufft ihn in die Seite:
„Hey, du willst doch wohl nicht anfangen zu heulen, oder?“
„Doch, Herr, das will ich.“
„Brauchst du `n Taschentuch?“
„Ja.“
„Hier, nimm.“
„Darf ich da rein schnauben?“
„Klar, ist doch meins.“
„Danke.“
„Und, wo willst du jetzt hin?“
„Ich weiß es nicht, Herr, ... ich weiß es verdammt noch mal wirklich nicht.“
„Dann ist es gut, dann komme ich mit.“

In der Ferne spielt das Schifferklavier „Welch ein Freund ist unser Jesus“, und das Schifferklavier hat da wohl Recht


J.H..

Dienstag, 23. Oktober 2012

Die Sache mit Drei-Finger-Joe

Die Sache mit Drei-Finger-Joe

Es war ein heißer, schwüler Nachmittag in Fort Lauderdale. Genauso unerträglich, wie jeder andere verdammte Nachmittag in diesem verdammten Florida, dachte Agent Myers.
An anderen Tagen funktionierte wenigstens die Klimaanlage, aber die war am frühen Vormittag ausgefallen, und so hatte sich das Polizeipräsidium in etwas verwandelt, dessen Klima es mit jeder Waschküche aufnehmen konnte. Samuel Myers war erst vor acht Wochen aus New York hierher versetzt worden und er hasste diesen so genannten „Sunshine State“ seit er das Flugzeug verlassen hatte.
Er grüßte knapp, als ihm Officer Mc Mullen, ein breitschultriger Kollege in Uniform, die Tür zu Verhörraum Nr.4 öffnete. Darin befanden sich ein Tisch, zwei Stühle und ein hagerer Kerl, der auf einem der Stühle saß. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber auch in diesem schattigen Halbdunkel, war zu erkennen, dass der Mann auffallend teuer gekleidet war. Nur seine weißen Lederhandschuhe wirkten unpassend. „Mafia-fashion“, Myers grinste.
„Hi, ich bin Agent Samuel Myers.“
„Ich weiß“, sagte der Mann.
Der Agent nahm sich den freien Stuhl und setzte sich. Er warf einen Blick in den Aktenordner, den er mitgebracht hatte: „Ihr Name ist Giovanni Bugiardo?“
„Ja.“
„Hier steht, dass man Sie auch `Drei-Finger-Joe` nennt.“ 
„Das kommt vor.“
„Merkwürdig. Wie ich sehe, haben Sie noch alle ihre Finger.“ 
„Das hat nichts miteinander zu tun.“
„Und die Handschuhe, warum tragen Sie die?“
„Fragen Sie meinen Hautarzt. Ich brauche dazu nichts zu sagen.“
„Mr.Bugiardo, sie wissen, was man Ihnen vorwirft?“
„Darf ich rauchen?“
„Rauchen? Natürlich, aber ich habe keine Zigaretten dabei.“ 
„Ich habe alles, was ich brauche, Sie müssten mich nur von diesen Dingern hier befreien.“
„Die Handschellen?“
„Ja bitte.“
Myers zögerte einen Moment, dann ging er zur Tür und gab dem Kollegen draußen seinen Revolver. Er wollte kein Risiko eingehen. Dann ging er zurück und nahm Joe die Fesseln ab. „Gut, aber keine faulen Tricks.“
„Ich werde nicht weglaufen, keine Angst.“ Der Mafiamann holte ein flaches Etui hervor, nahm eine Zigarette heraus und steckte es zurück.
„Mr. Bugiardo, sie werden beschuldigt, sechs junge Frauen ermordet zu haben.“
„Es waren sieben.“
„Was sagen sie da?“
Joe fingerte ein silbernes Feuerzeug aus seiner Hosentasche: „Die Letzte habt ihr nur noch nicht gefunden.“
„Sie geben es zu?“
„Natürlich, ist doch egal.“
„Egal?“
Der Mafioso steckte seine Zigarette in Brand: „Ja, es ist egal, ob ich es zugebe, weil du mich sowieso laufen lässt.“
„Ich werde Sie laufen Lassen? Warum sollte ich das tun?“ 
„Weil ich dir sonst erkläre, was es mit meinem Spitznamen auf sich hat.“
„Ach ja? Und was sollte das sein?“
Joe hob den Daumen seiner linken Hand: „Eins“, sagte er, „Ich werde dir ein bisschen wehtun.“ Er hob den Zeigefinger: „Zwei. Ich werde dir ein wenig mehr wehtun. „Bei drei“, er streckte den Mittelfinger aus, „wird es für dich richtig unangenehm.“
„Sie wollen mir drohen?“
Bugiardo lächelte: „Ein schönes Auto hast Du da auf dem Parkplatz.“
„Was geht sie mein Auto an?“
Joe klappte sein Feuerzeug auf und drückte einen verborgenen Mechanismus. „Eins!", sagte er, und von draußen war eine gewaltige Explosion zu hören.
Myers stürzte zum Fenster und sah seinen Wagen in hellen Flammen stehen. Er drehte sich um: „Sie Wahnsinniger, was haben sie getan?“
Auf dem Flur waren eilige Schritte und laute Rufe zu hören. 
„Ich habe sieben Frauen getötet und gerade Deinen Mustang in die Luft gejagt. Kann ich jetzt gehen?“
„Sie Drecksack! Ich werde Sie abknallen.“
Drei Finger Joe winkte lässig ab: „Nein, das wirst Du nicht.“
„Ach, und warum nicht?“
„Weil Du dann nie erfährst, wie Du das Leben deiner Familie retten kannst.“ 
Myers stürzte sich auf ihn, griff die Revers seiner Jacke und hob Joe in die Höhe: „Meine Familie? Was ist mit meiner Familie, Du Mistkerl.“
Joe blieb die Ruhe selbst: „Pfoten weg, sonst erfährst Du gar nichts.“
Myers ließ ihn los. „Also gut, reden Sie.“
„Lässt Du mich laufen?“
„Kann schon sein.“
„Schwörst du`s?“
„Ja, verdammt nochmal. Ja.“
„Die Explosion hat einen Impuls gesendet. In drei Minuten geht Deine Garage hoch. Hast du ein Handy?“
„Ja.“
„Dann ruf` Deine Frau an und sag ihr, sie soll in den Keller gehen. Los, beeil dich.“
Myers holte mit fliegenden Fingern sein Mobiltelefon heraus: „Schatz? Hallo Schatz – ja, ich bin`s. Hör zu, stell keine Fragen. Nimm Josh und den Hund und geh so schnell du kannst runter in den Keller. Sofort!“ Der Schweiß lief Myers in Strömen übers Gesicht. 
Joe drückte seine Kippe auf der Tischplatte aus und erhob sich: „Gut, dann können wir ja jetzt gehen.“
„Gehen?“ Myers schnaubte verächtlich, „ Du gehst nirgendwo hin. Nur in den Knast – und dann auf den Stuhl!“
„Zwei!", sagte Joe und hielt Myers seinen Zeigefinger vor die Nase, „Du brichst dein Wort, und du hast geflucht, das tut man nicht. Darum werden Deine Lieben in genau acht Minuten diese schöne Welt verlassen.“
„Was?“
„Dein Anruf, mein Freund, hat die Ladung erst scharf geschaltet. Und, sie ist auch nicht in der Garage ...“
„Du verdammter ...“ Ein Schuss peitschte die Luft, dann sackte Myers zusammen.
„Drei“, sagte Joe und sah auf die rauchende Kuppe seines rechten „Zeigefingers“.
„Falls du es genau wissen willst“, flüsterte er, „bald sind es acht.“ Er klopfte drei Mal an die Tür. Der wachhabende Officer öffnete ihm.
„O.K Mc Mullen“, sagte Joe und klopfte dem Mann vertraulich auf die Schulter, „Agent Myers hat mir soeben die Erlaubnis gegeben, diese gastliche Stätte zu verlassen. Los bring mich raus.“
„Ich glaube, du bleibst besser hier.“
„Wie?“
„Du hast gerade einen Agenten der Bundespolizei erschossen.“ 
Joe verzog das Gesicht: „Ach, sag bloß. Darauf wäre ich von selbst nicht gekommen. Mach keinen Quatsch und bring mich zum Hinterausgang. Mein Wagen wartet.“
„Nein.“
„Nein? Was soll das heißen, du irischer Vollidiot, du stehst auf meiner Gehaltsliste.“
„Du bleibst hier Joe.“
„Gut, wenn du es nicht anders willst, werde ich jetzt bis drei zählen. Du weißt, was das heißt.“
Mc Mullen griff Joes rechten Arm und presste ihn gegen die Wand, gleichzeitig zog er die 38er, die Myers ihm gegeben hatte, aus dem Hosenbund. "Seit zwanzig Jahren bedrohst, und erpresst du mich jetzt Mr. Dreifinger. Ich habe getan, was du wolltest, aber damit ist jetzt Schluss.“ Er drückte Joe den Revolver gegen die Rippen.
Der Mafioso grinste ihn an: „Du wirst mich nicht erschießen. Du bist ein Bulle, du bist an die Gesetze gebunden.“
„Ich schon“, sagte der Officer. Dann deutete er mit dem Kopf in Myers` Richtung, „aber er nicht.“
Mc Mullen schleuderte Joe in den Raum zurück, dann bellte die 38er einmal kurz auf. Der Officer wischte die Pistole ab und legte sie dem toten Agenten in die Hand. Er nahm sein Funkgerät: 
„Hier Officer Mc Mullen, brauche dringend Verstärkung und einen Krankenwagen. Habe hier zwei Verletzte in Vernehmungsraum Nr.4, beeilt euch.“ 
Sie würden zu spät kommen, ganz egal, mit wie viel Blaulicht sie auch anrückten. Mc Mullen atmete tief durch. 
Diesen linken Spaghetti war er los, und die „Familie“ konnte ihm nichts. Schließlich hatte er Drei-Finger-Joe nach Kräften unterstützt und sogar den Sprengstoff unter dem Auto deponiert. Agent Myers war bestimmt ein Verlust, aber adererseits hatte Mc Mullen  diese lackierten FBI Typen noch nie wirklich leiden können.

J.H.

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Der Dümpel

Der Dümpel

Eduard Pedersen war ein zufriedener Mensch. Er hatte sich in seinem Leben eingerichtet. Nicht etwa, wie man sich bei einem schwedischen Möbelhaus einrichtet, nur für eine gewisse Zeit, um dann bald alles wieder neu zu machen.
Nein, seine „Einrichtung“ war von fester, bleibender Qualität. Stabil genug für ein ganzes Leben. Er hatte schon in jungen Jahren die höhere Beamtenlaufbahn beim Finanzamt eingeschlagen, sich eine Schweizer Armbanduhr und ein Jahresticket für den Bus gekauft. Der Pünktlichkeit wegen. 
Pedersen war mit sich und der Welt im Einklang – bis zum 6. November 2010, einem Donnerstag, um 17:45.
Er hatte den Bus wie jeden Abend nach Dienstschluss bestiegen, ein paar Belanglosigkeiten mit Wilhelm Koslowski, dem Fahrer, gewechselt und sich dann auf einen der hinteren Plätze nahe dem Ausgang gesetzt – nur für den Fall.
Er hatte mit geschlossenen Augen ein wenig vor sich hingedöst, als sich unerwartet jemand mit einiger Mühe auf den Sitzplatz neben ihm drängte. Es musste ein besonders beleibter Mensch sein. Aber es war kein Mensch.
Es war ein Riese.
Ein Riese, mit einem weißen Gewand, der, obwohl er sich unbequem zusammenkrümmte, immer noch mit dem Hinterkopf das Wagendach berührte. Er trug goldene Sandalen und stützte sich auf mächtiges Schwert, an dem bläuliche Flammen empor züngelten.
„Eduard, wir müssen reden“, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die eigentlich das Fensterglas hätte bersten lassen müssen. Nicht unerträglich laut, aber machtvoll wie Kirchenglocken mit Orgelpfeifen gemischt.
„Wir?", fragte Pedersen und sah sich um. Die anderen Fahrgäste schienen nichts gehört zu haben. Sie nahmen eigentlich überhaupt keine Notiz von dieser ungeheuerlichen Erscheinung.
„Ja Eduard, wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.“
„Aber worüber denn?“
„Über deinen Lebenswandel, mein Lieber.“
„Über meinen Lebenswandel? Aber damit ist doch alles in Ordnung. Ich kann mir nicht vorstellen, was es daran zu bemängeln gäbe.“
„Schon klar, dass du dir das nicht vorstellen kannst, mein kleiner, sauberer Finanzinspektor.“
Pedersen nahm Haltung an: „Wer oder was sind sie eigentlich, dass sie meinen, mich hier belästigen zu dürfen?“
Der Hüne sah ihn schräg von oben an: „Oh entschuldige, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Nathanael, und wenn du mich „Nati“ nennen solltest, haue ich dir eine rein. Was ich bin, willst du wissen? Oh, ich bin nur ein etwas zu groß geratener Staubsaugervertreter, der luftig weite Gewänder liebt und wegen seiner Schweißfüße mit goldenen Badelatschen herumläuft. Die Flügel auf meinem Rücken und das Flammenschwert sind eigentlich nur Staffage, da braucht man sich nichts weiter bei zu denken.“ Er legte Eduard seine rechte Klodeckelpranke aufs Knie:“ Alles klar?“ In den Glockenklang seiner Stimme hatte  sich ein leichtes Donnergrollen gemischt.
„Sie sind also tatsächlich ein ...", stotterte Pedersen. 
„Ein Engel, ganz genau. Ein richtig echter, naturbelassener Erzengel, um ganz genau zu sein. Du kannst mich ruhig duzen, aber wehe, wenn du mich Nati nennst.“
„Natürlich nicht“.
„Natürlich nicht, natürlich nicht!", donnerte Nathanael „ Mann, wie ich diese Duckmäuserei hasse.“
„Wie?“
„Du bist ein „Dümpel“, mein Freund. Ein echter, zahnloser Lauwarmdümpel.“
„Ich habe keine Ahnung, was sie meinen, aber ich bemühe mich stets ein ordentlicher ...“
„Dümpel zu sein?“
„Nein, ein ordentlicher Mensch zu sein“, sagte Pedersen. 
Die Flammen an Nathanaels Schwert loderten in einem wütenden dunkelrot: „Ein Mensch willst du sein, du Ahnungsloser? Nein, du bist eine Schande für das ganze Menschengeschlecht, ein Schlag ins Gesicht der Schöpfung!“
„Aber ich bin ein Mensch.“
„Du siehst vielleicht aus wie einer, aber du bist nicht menschlich. Der Mensch wurde als Mann und Frau erschaffen. Bist du eine Frau? Nein. Bist du ein Mann? Auch nicht.“ 
„Aber natürlich bin ich ein ...“
„Rede keinen Blödsinn! Der Mann ist ein Kämpfer, ein Krieger, ein Jäger. Einer dem nichts egal ist. Einer, der selbst für die Ehre seines Taubenzüchtervereins in den Krieg ziehen würde. Und vor allem, einer der die Weiber liebt.“ Der Engel hob eine Augenbraue: „Und, Eduard, bist du so einer?“
„Nein, aber die Corinna ...“
„Die Corinna hast du geliebt? Mensch Pedersen, das war in der Grundschule. Du hast ihr ein peinliches Gedicht geschrieben, sie hat sich darüber lustig gemacht und du bist heulend zu deiner Mutti gelaufen. Soviel zu deinen Weibergeschichten.“
„Ich bin eben für diese Dinge nicht gemacht.“
„Nicht gemacht?", donnerte Nathanael, „jetzt soll wohl noch ein Anderer für dein mickeriges Dasein verantwortlich sein, oder wie? Was du bist, hast du selbst erschaffen, und das ist Blasphemie; so was wird nicht geduldet.“
Der Engel hob sein grausames Schwert und hielt es vor sich: „ Damit ist jetzt Schluss.“
„Schluss?", rief Pedersen und hielt seine Arme vor das Gesicht, „was soll das heißen?“
„Das soll heißen, dass mein Schwert jetzt deinem bedauernswerten Dümpel-Dasein ein Ende bereiten wird. Erst werde ich deinen zarten Bürokratenhintern in hauchdünne, rauchende Scheiben schneiden und dann deine nutzlose Seele in die ewige Finsternis ...“
„Nein, bitte nicht!", flehte Pedersen, „ ich kann mich ändern. Ich kann ein richtiger Mann werden, ganz bestimmt. Wenn du mir dabei hilfst, dann kann ich das.“
Der Engel warf ihm einen verächtlichen Blick zu: „Ich soll dir helfen?“
„Ja bitte, nur ein bisschen. Du bist doch ein Engel, du kannst das. Nur ein kleiner Schubs in die richtige Richtung so zusagen.“
Nathanael kratzte sich am Kinn: „Einen kleinen Schubs in die richtige Richtung?“
„Ja, das wird völlig ausreichen.“
Der Engel atmete tief durch, dann drückte er seinen imposanten Daumen auf Pedersens Stirn und sagte: „ O.K. mein Freund, aber wehe, wenn du das hier vergeigst. Dann komme ich wieder.“
Für einen Moment wurde um Pedersen alles in blendendes Licht getaucht, und als er wieder sehen konnte, war der Engel verschwunden. Nur ein ganz leichter Schwefelgeruch lag noch in der Luft.

Was für einen verdammten Schwachsinn man doch so träumen kann, dachte Pedersen, als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Er stand mühsam auf, kratzt sich ausgiebig und schlurfte ins Badezimmer. Er klappte die Klobrille herunter und wollte sich gerade hinsetzen, als er eine leise Stimme hörte: „Ede, sei ein Mann.“ Pedersen drehte sich um, klappte die Brille wieder hoch und pinkelte im Stehen.
Ein Anfang war gemacht.

J.H.

Mittwoch, 22. August 2012

Robinson und Samstag

Robinson und Samstag

Der Kies knirscht unter meinen Schuhsohlen, es ist ein breiter Weg. Rechts und links sind Rhododendren gepflanzt.
Sie sind mindestens fünf Meter hoch und bestimmt hundert Jahre alt. Das sind nur vierzig Jahre mehr, als ich selbst bin – meine Güte. 
Ich kann Orte wie diesen nicht leiden, obwohl sie oft die lebendigsten und blühendsten Plätze in den Städten sind. Es gibt sie nur, weil es den Tod gibt, darum mag sie nicht. 
Sie sind niemals kühl, sondern immer kalt und zugig, selbst, wenn überall in der Stadt Hochsommer herrscht. Eine Merkwürdigkeit, aber irgendwie doch passend.
Am Ende des Weges hockt ein wuchtiger Klotz aus Backsteinen, der an einen Luftschutzbunker erinnert. 
Der Weg führt direkt auf die Freitreppe vor diesem Gebäude zu, und die Rhododendren machen ein Ausbrechen unmöglich; Fluchtwege gibt es nicht. 
Ein mageres Kreuz ist an der Stirnseite des Bunkers angebracht, aber es kann mich genauso wenig trösten, wie der verblichene Bibelvers darunter. 
Ich bin spät dran und die eisenbeschlagenen Türen haben sich wohl schon seit einigen Minuten hinter der Trauergesellschaft geschlossen. Ich will mich nicht hineinschleichen, sondern gehe lieber hinter das Gebäude, wo die öffentlichen Toiletten sind und die Leichenwagen stehen. 
Ich stecke mir eine Zigarette an.
Marlene, denke ich, Marlene Schimke.Geboren am 9. Oktober 1950 gestorben am 17.Juli 2010, so wird es wohl auf ihrem Stein zu lesen sein. 
Ich war siebzehn, als sie mit ihrem Vater in unsere Nachbarschaft zog. 
Er war Hauptschullehrer und hatte sich, nach der Trennung von Marlenes Mutter (der alten Schlangenhure, wie Marlene sie nannte), hierher versetzen lassen. Marlene kam am 26. September 1967 in unsere Klasse, nicht lange vor ihrem siebzehnten Geburtstag. Als ich sie das erste Mal sah, passierte etwas mit mir, das ich bis heute nicht erklären kann. Ich saß da, wie ein Depp mit offenem Mund, solange bis mein Kumpel Hannes neben mir mich in die Seite boxte und sagte: „Du wirst dir noch auf`s Hemd sabbern, Mensch.“ Ich riss mich zusammen, denn es war mir peinlich, so erwischt worden zu sein, aber wie ein Zauber oder Fluch hatte mich etwas ergriffen, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Neben Marlene wirkten die ganzen anderen „Hühner“ wie trockener Schiffszwieback. Auch wenn sie sich aufreizend kleideten, die Augen schwarz bemalten und in den Pausen mit ihren knallroten Mündern Zigaretten pafften. Ihr ganzes Gehabe versprach einfach nur Dinge, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten. Bei Marlene war es ganz anders. Sie kleidete sich unscheinbar, ja geradezu bieder, mit ihren Faltenröcken und den gestärkten Blusen. Sie trug auch nie die Haare offen, oder sogar toupiert wie all die anderen Gänse. Aber sie strahlte etwas aus, das mir sagte, sie würde alle Versprechen halten, die ich mir erträumte.
Sie saß drei Reihen vor mir und ich verbrachte meine Vormittage damit, in ihre Nackenhärchen zu träumen. Mein bester und einziger Freund Hannes zog mich oft damit auf. „Robinson, mein Alter, wenn du der Kleinen weiterhin so hinterher schielst, wirst du den Rest deiner Tage alles doppelt sehen. Das kriegt man nie wieder richtig.“ Wir kannten uns schon seit der vierten Klasse, und er nannte mich „Robinson“, weil ich schon immer einen Hang zur Einsiedelei hatte. Als ich ihn daraufhin „Freitag“ nennen wollte, wehrte er ab:„ Nee Robinson, ein „Freitag“ bin ich bestimmt nicht. Da ist doch nichts los. Ich bin auf jeden Fall ein „Samstag“. Der schläft immer lange aus, am Nachmittag laufen immer die besten Spiele und am Abend geht`s dann erst richtig los. Wenigstens, wenn wir etwas größer sind.“ So wurden wir Robinson und Samstag, die besten Kumpel, obwohl wir so unterschiedlich waren, wie Huhn und Hase. Ich, Robinson Erwin Eisenbach war in allen Fächern immer einer der Besten, von Sport und Werken einmal abgesehen. Ich las alles von Karl May und Jules Verne und bemalte Zinnsoldaten. Ich war mager und meine Haut war von aristokratischer Blässe, denn ich mied den Sonnenschein fast genauso sorgfältig, wie den Kontakt zu anderen Menschen. Meine Mutter und Hannes natürlich ausgenommen. Er, Hannes „Samstag“ Jäger war schon mit drei Jahren nur auf dem Hinterrad mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und so blieb es. Er wurde zum besten Sportler unserer Schule und der breitschultrige Schwarm aller Mädchen, was ihm allerdings nicht viel bedeutete. Wir waren wie Brüder, bis Marlene mich eines Tages fragte, ob ich ihr nicht Nachhilfe in höherer Mathematik geben würde …
Ich verscharre meine Zigarettenkippe im Kies und mache mich auf zu den Leichenwagen. Mal sehen, ob die wohl Radios eingebaut haben. Hinter mir höre ich Schritte, die sich nähern.
Erwin bist du das?", sagt eine Stimme, die ich ewig nicht gehört habe. Die Schritte sind jetzt ganz nah: "Erwin?“
Ein Schaudern läuft über meinen Rücken, ich drehe mich um: „ Ja, mein Name ist Erwin. Erwin Eisenbach.“
Vor mir steht ein alter Mann. Immer noch groß, aber sehr mager und faltig, mit grauen Stoppeln im Gesicht.
Seine Augen leuchten mich an, er hat einen Tropfen an der Nase, den er mit dem Ärmel wegwischt.
Erwin, he Robinson, weißt du nicht mehr, wer ich bin?“
Ich muss mich räuspern:„Nein, tut mir leid.“
Er macht einen Schritt auf mich zu und will nach meiner Schulter fassen: „Mensch Erwin ...“.
Ich weiche vor ihm zurück, und er greift ins Leere.
Ich bin`s Erwin, Hannes.“
Wer?“
Ich bin Hannes. Hannes „Samstag“ Jäger.“
Ich schüttele den Kopf: „ Nein, das ist nicht möglich. Mein Freund Hannes Samstag ist schon lange tot.“
Tot? So ein Quatsch! Erwin, ich bin`s wirklich. Dein alter Kumpel Samstag. Ich bin nicht tot, sieh mich doch mal an.“ „Halten sie den Mund! Ich brauche sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie ein Lügner sind. Mein Freund Hannes starb an einem Sommerabend im Jahre 1968.“
Woran ist er denn gestorben?“
Er küsste die Tochter einer Schlangenhure und starb daran.“ „Aber wo, Erwin, wo bin ich denn dann begraben, wenn ich wirklich tot sein sollte?“
Hier“, sage ich und deute auf meine Brust. Ich gehe an ihm vorbei, den Kiesweg entlang auf das große Eingangsportal zu.
Sollen doch die Toten ihre Toten begraben“, denke ich und wische mir einen Tropfen von der Nase.

J.H.

Samstag, 21. Juli 2012

Linie 451


Linie 451

„Sie heißen Johannes Diehsel?“
„Hannes Diehsel, nicht Johannes.“
„Gut Herr Diehsel, dann erzählen sie uns doch mal Ihre Sicht der Dinge.“
„Meine Sicht? Hier geht es um Prinzipien, um Tugenden, um Werte und nicht um „meine Sicht“. Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Treue, Fleiß, Korrektheit und Gehorsam. Und natürlich um die Größte unter ihnen, die „Königsdisziplin“.
„Die Größte?
„Die Pünktlichkeit, natürlich.“
„Die Pünktlichkeit?“
Aber sicher. Alle anderen Tugenden kann man erreichen, indem man die jeweilige Untugend einfach ablegt. Die Pünktlichkeit aber, die ist nur durch einen ständigen Kampf zu erlangen, denn wer sie will, der hat eine hinterhältige Gegenspielerin.“
Und wer oder was sollte das Ihrer Meinung nach sein?“
Das ist die Zeit. Die scheint ganz geradlinig und berechenbar zu sein, die läuft auch brav hinter einem her, wenn man ihr einen Schritt voraus ist, aber wehe, du bist unachtsam, dann überholt sie dich, lässt dich zurück und macht dich zum Gespött der Leute. Die ist eine falsche Schlange, die man beherrschen muss. Ich bin jetzt seit dreißig Jahren Busfahrer bei uns in Bocholt, auf Linie 451, ich weiß, wovon ich rede.“
Wann ist Ihnen dies das erste Mal derart deutlich geworden, Herr Diehsel?“
Wissen Sie, ich hatte da schon immer so einen Verdacht. Aber an meinem ersten Arbeitstag bei der BBV., ist bei mir endgültig der Groschen gefallen. Ich war neunzehn. Mutter hatte die Uniform gründlich ausgebürstet, das Hemd gebügelt und die Schuhe auf Hochglanz poliert. Ich war pünktlich aufgestanden und alles hätte gut gehen müssen, aber als ich meinen linken Schuh zubinden wollte, da riss der Senkel so unglücklich, dass er nicht mehr zu gebrauchen war. Ich war aufgeregt und brauchte geschlagene vier Minuten, bis das neue Schnürband endlich eingefädelt war, und ich die Schleife gebunden hatte. Ich bin aus dem Haus gestürmt, die Branderheide runter, aber wie sehr ich mich auch beeilt hab, auf meinem Weg kamen von überall immer noch ein paar Sekunden dazu. Dadurch kam ich mit sechseinhalb Minuten Verspätung auf dem Betriebshof an. Die Busse waren so in der Halle geparkt, dass sie nur der Reihe nach herausgefahren werden konnten. Meiner war der Erste, und weil ich nicht rechtzeitig war, hatten alle Linien an diesem Tag unglaubliche Acht! Minuten Verspätung. Da hab ich mir geschworen, dass so was bei mir nie wieder vorkommen würde.“
Und, haben Sie dieses Ziel erreicht?“
Das kann man wohl sagen. In den folgenden dreißig Jahren habe ich keine einzige Minute mehr verloren, keinen Tag wegen Krankheit gefehlt und, weil ich auch die Sorgfalt immer hochgehalten hab, hatte ich nie einen Unfall.“
Herr Diehsel, bitte erzählen Sie uns doch einmal kurz Ihren Tagesablauf.“
Daran ist nichts Besonderes. 5:00 aufstehen, dann in die Küche den Wasserkocher anstellen, ins Bad – 6 Minuten. 5:06 Kaffee aufgießen, Uniform anziehen 4 Minuten, Frühstück 8 Minuten. Um 5:20 die Frau zum Abschied auf beide Wangen küssen, verlasse das Haus, steige auf`s Fahrrad und erreiche nach 10 Minuten um 5:30 das Busdepot.“
Beachtlich, Herr Diehsel. Gilt dies alles auch für Ihre Freizeit?“
Aber sicher, das gilt für alles.“
Und Ihre Frau hat Sie darin immer unterstützt?“
Natasha? Oh, ganz am Anfang nicht, aber die hat sich schnell eines Besseren besonnen, das kann ich Ihnen sagen. Was hätte sie auch tun sollen, so ohne Papiere und ohne Geld? Zurück nach Kasachstan vielleicht?“
Herr Diehsel, kommen wir nun zum vergangenen Freitag, dem Tag Ihres Dienstjubiläums. War da auch alles so, wie immer?“
Nein, da war nichts, wie es sein sollte. Der Wecker hatte nicht geklingelt, es war 5:04, als ich aufgewacht bin.. Vier Minuten zu spät. Ich hab dann alles im Laufschritt erledigt. Hatte schon zwei Minuten wieder gut gemacht, als ich feststellte, dass mein Hemd falsch geknöpft war. Versuchte es erneut, aber die Knöpfe und die Knopflöcher passten einfach nicht mehr zusammen. 3 Minuten minus! Schlüpfte in die Hose, zog das Sakko über, und sah, dass beides völlig zerknittert war. Ich hab nach meiner Frau gerufen: „Natasha, was ist mit meiner Uniform passiert?“
Keine Ahnung, vielleicht hat Hund drauf geschlafen“, kam es zurück.
Der Hund? Was redest du da, wir haben keinen verdammten Hund. Und wo ist meine Krawatte, ... ich kann die nicht finden.“
Vielleicht hat Hund sie gefressen!“
Bist du völlig verblödet? Wir haben doch gar keinen ...“ Ich wollte meine Schuhe zu binden, aber die Schnürsenkel waren so sehr verknotet, dass ich sie unmöglich entwirren konnte.
Natasha, du dummes Weibsstück! Komm jetzt her und hilf mir. Ich komm zu spät!“
Aus der Küche kam nur ein unschuldiges Pfeifen.
Ich kann gerade nicht. Muss nachsehen, ob Hund gut geht, wegen hat gefressen deine Krawatte.“
Also, ich bin wirklich ein feiner Kerl, da können Sie fragen, wen Sie wollen. Ich bin nachsichtig und durch nichts so schnell aus der Ruhe zu bringen, aber das war zu viel.
6 Minuten minus! Ich hab die Schnürbänder mit meinem Taschenmesser zerschnitten, um überhaupt in meine Schuhe zu kommen.
Du bist heute spät dran“, hörte ich sie aus der Küche.
Ich bin zur Küchentür gehumpelt: „Das warst Du!“ hab ich gesagt,
Das alles bist Du gewesen! Aber warte, Mädchen, wir sprechen uns später.“
Keine Ahnung was meinst du.“
Ich werde dich umbringen, du ...“.
Sie stand am Herd in ihrem fadenscheinigen Morgenrock, drehte sich zu mir um und lachte mich aus. „Womit? Mit deine kleine Messerchen? Damit kannst du genauso wenig ausrichten, wie mit deinem kleinen … “
Sei still! Sonst tue ich es wirklich.“
Und wann? Wann wirst du es tun, Herr Busfahrer, wann wirst du mich umbringen?“
Heute Nachmittag, Punkt 14:55.“
Herr Diehsel, wann kamen Sie an diesem Tag nachhause?“
Um 14:42.“
Was taten Sie?“
Ich ließ meine Tasche im Hausflur stehen und ging sofort hinters Haus in den Werkzeugschuppen.“
Was wollten Sie da?“
Den Hammer holen.“
Den Hammer?“
Ja, ich hatte mich um 13:28 entschieden, dass ich sie mit dem 5-Kilo-Fäustel erledigen wollte. Zwei bis drei Schläge, dann den Leichnam beseitigen. Zur Sportschau wäre ich zurück gewesen.“
Es lief nicht alles nach Plan, oder?“
Nein. Hören Sie, meine Werkstatt, ist eine Augenweide für jeden, der die Ordnung liebt, aber meine Frau, die hatte ganze Arbeit geleistet.
Alle meine Maschinen und Handwerkszeuge, Kabel und Gartengeräte lagen da in einem wilden Durcheinander auf der Erde, und den Inhalt von sämtlichen Schubkästen hatte sie drüber ausgeschüttet. Es war 14:46. Nur noch neun Minuten! Ich hab gewühlt, ich hab gesucht, ich musste doch den Fäustel finden. Aber die Zeit rannte mir immer schneller und schneller davon, es hatte keinen Sinn. Ich bin also aus der Werkstatt gestolpert, ins Treppenhaus und die Stufen hoch, bis in unsere Etage.“
Warum?“
Ich wollte Natasha fragen, wo sie den Hammer gelassen hatte.“
Was geschah dann?“
Die Tür war nur angelehnt. Natasha stand am Ausguss und trocknete das Geschirr ab. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr, dann sah sie mich an und lächelte.“
Ist es richtig, Herr Diehsel, dass Sie Ihre Frau, nur wenige Augenblicke
später, mit dem Nudelholz erschlugen?“
Ja.“
Und jetzt, da Sie einige Zeit zum Nachdenken hatten, tut es Ihnen leid?
Wie?“
Tut es Ihnen Leid, Herr Diehsel?“
Ja.“
Sie bedauern also, dass Sie Ihre Frau umgebracht haben?“
Nein.“
Wie soll ich das verstehen?“
Es war 14:57, und es war nicht der Fäustel“.



J.H.