Ein kurzer Sommer mit
Julia
Ich
habe mir eine Bank gesucht, am Wanderweg, vor einer schützenden
Hecke.
Man
hat von da aus einen schönen Blick aufs Meer, und man hat seine
Ruhe.
Es
ist selten viel los da.
Nur
ein Fußweg und eine Wiese trennen mich vom Wasser.
Es
ist schon elf Uhr am Vormittag, aber es ist diesig, und die Sonne
kann sich nicht so recht durchsetzen.
Ein
Hund kommt um die Ecke und rennt auf die Wiese.
Eine
hässliche, schwarze Labrador Hündin mit langen, schlenkernden
Zitzen.
Sie
humpelt und macht komische Bewegungen beim Gehen.
Vielleicht
hatte sie einen Unfall, oder sie ist schon so alt, dass der
Schlaganfall sie erwischt hat.
Egal,
Hauptsache, sie entdeckt mich nicht und sabbert mir auf die Hose.
Ich
kann mir echt nicht vorstellen, wie man so eine unansehnliche Töle
zuhause haben will.
Ein
Mädchen betritt die Wiese, sie hat wohl eine Leine in der Hand, und
noch etwas anderes, vielleicht ein Stöckchen, oder so.
Sie
ist noch ziemlich weit weg, aber ich erkenne, dass ihre dunklen
Locken fast bis zur Hüfte reichen.
Wohl
das Frauchen von dieser humpeligen Hundedame.
Sie
trägt eine kurze Hose mit langen Beinen drunter.
Ich
schaue kaum hin, es interessiert mich nicht weiter – ich stehe mehr
auf Blondinen.
Die
Sonne verdrängt langsam den Hochnebel und der Himmel wird klar.
Leute
mit komischen Hunden ähneln auch meistens ihrem Tier, da würden in
diesem Fall auch die langen Beine nichts mehr retten.
„Quasimoda“
sollte ich den sabbernden Pelzhaufen nennen, frei nach dem buckligen
Glöckner von Notre Dame.
Genau,
und wie heißt wohl das Frauchen?
Nach
der knappen Hose zu urteilen, wahrscheinlich Chantal oder Chanine,
oder irgendwas, was sie selbst kaum buchstabieren kann.
Aus
der Rubrik „ schwer geschminkt, und leicht zu haben“, haha.
Ein
Spaziergänger kommt vorbei.
Er
trägt einen braunen Anzug und dazu blaue! Joggingschuhe, verdammt.
Das
Meer ist ruhig heute.
Ein
Lotsenboot schiebt eine dicke Bugwelle vor sich her, lautlos, der
Wind ist ablandig.
Das
Mädchen wirft das Stöckchen, und die hinkende Hundedame versucht es
zu fangen – ein jammervoller Anblick.
Ich
muss mich verbessern, das Mädchen hat doch nicht so viel Ähnlichkeit
mit ihrem geifernden Haustier, wie ich zuerst gedacht hatte.
Ihr
Gesicht kann ich noch nicht erkennen, dafür ist sie zu weit weg,
aber was ich von ihr sehen kann, könnte mir unter Umständen schon
gefallen.
Nein,
ich schüttele den Kopf und sehe lieber wieder aufs Meer hinaus.
So
ein Mädel käme nicht infrage, auch wenn sie keine
Familienähnlichkeit mit ihrer fusseligen Freundin hat.
Dann
hat sie eben ein Herz für all die armen Vertreter der gefallenen
Schöpfung, und bestimmt jede Menge einbeinige Karnickel, oder
milieugeschädigte Wellensittiche zuhause – nein danke.
Allein,
wie es bei ihr in der Wohnung wohl riecht?
Sie
wirft das Stöckchen, und unter ihrem Top wippt es kaum nach.
Bestimmt
alles voller Katzenhaare in der Bude, denke ich, und muss einen
Niesreiz unterdrücken.
Die
beiden sind näher herangekommen.
Das
Mädchen trägt eine große Sonnenbrille – vielleicht schielt sie,
oder ist ein Albino.
In
Ihrem Fall müsste es dann wohl „Albina“ heißen.
„Quasimoda
und Albina“, ich sollte eine Geschichte über die beiden schreiben,
ein Jugendbuch, so wie Hanni und Nanni.
Der
erste Band hieße dann wohl „Quasimoda und Albina gegen den fiesen
Kammerjäger“.
Gibt
es Albinos mit braunen Locken?
Es
ist wirklich schade, dass ein hübsches Ding wie sie für mich nicht
infrage kommt.
Nein,
nicht bei diesem unsympathischen Anhang jedenfalls.
„Hallo,
Du, da!" sie winkt in meine Richtung.
Sie
wird jemand anderes meinen, ich sehe einer trägen Möwe hinterher.
„He!“
sie stapft durch das Gras direkt auf mich zu.
Sie
trägt Gummistiefel zu ihrer kurzen Hose und wahrscheinlich keine
Socken.
Davon
kriegt man Stinkefüße, wie meine Mutter sagen würde.
„He,
hast du eine Uhr dabei?“ ruft das Mädchen mit den Stinkefüßen.
Ich
drehe mich zur Seite, aber da ist sonst niemand.
Eine
Lachmöwe segelt über uns hinweg.
„Hast
du eine Uhr?", ruft sie und nimmt ihre Sonnenbrille ab.
Mich
trifft der Schlag, ich kenne sie!
Sie
heißt Julia und ist erst kurz vor den Sommerferien an unsere Schule
gewechselt, eine Klasse über mir.
Ich
war bisher nie in ihre Nähe gekommen, aber es kursierten schon nach
der ersten Woche allerlei Gerüchte über sie.
Die
Mädchen zischten ihren Namen und die Jungen verdrehten
sehnsuchtsvoll die Augen, wenn das Gespräch auf sie kam.
„Wer
ich?", frage ich vorsichtig.
„Ja
klar“, sie hebt die Arme, „siehst du hier sonst noch jemanden?“
Der
unnütze Köter hat sich nun auch auf den Weg gemacht und schlenkert
hinter ihr her.
Die
beiden kommen immer näher.
„Ja,
ich habe eine Uhr“.
„Und?",
sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch.
„Was
meinst du?“
„Wie
spät es ist, meine ich“.
„Oh,
gleich Viertel nach zwölf“.
„Danke,
war doch gar nicht so schlimm, oder?“
Die
Labrador-Lady scheint sich über meinen Anblick zu freuen, denn sie
wedelt, was das Zeug hält, und setzt sich direkt auf meine Füße.
Das
Mädchen schenkt mir ein blütenweißes Lächeln.
„Sieh
mal, die alte Milli mag dich, du musst ein echter Tierfreund sein.
Sie hat ein todsicheres Gespür dafür. Dürfen wir uns ein wenig zu
dir setzen?“
„Oh
ja, sicher", sage ich, „klar.".
„Wir
sind ein wenig verschwitzt vom Spielen, ich hoffe das macht dir
nichts aus“.
Sie
setzt sich, und ich bemerke, dass sie von oben bis unten von winzig
kleinen Schweißperlen bedeckt ist, die in der Sonne wie zarter
Raureif auf ihrer gebräunten Haut funkeln. Ich müsste verrückt
oder kastriert sein, wenn mich dieser Anblick stören würde.
„Du
magst Hunde, oder?“
„Auf
jeden Fall“, lüge ich, „aber nicht nur Hunde. Ich liebe alles,
was zwei oder vier oder noch mehr Füße hat. Haha, oder auch Federn
oder Krallen, ganz egal“.
Ich
tätschele Milli den Kopf, und sie beginnt begeistert meine Hand
abzuschlecken – widerlich.
„Das
ist schön“, sagt das Mädchen, „ich bin übrigens Julia.".
„Ich
weiß“, rutscht es mir heraus, „ich bin Thomas“.
„Du
weißt, ... du kennst meinen Namen?“
„Äh
ja, ich gehe auch auf die Heine-Schule. Die ist ja nicht so besonders
groß, da weiß man ja schnell, wenn jemand Neues dazu gekommen ist.“
Julia
dreht sich ein wenig weiter in meine Richtung und mustert mich von
oben bis unten.
„Moment
mal, du heißt Thomas, gehst in die Heine-Schule und du sitzt hier
ganz alleine mit ein paar Schreibutensilien. Wie heißt du mit
Nachnamen?“ sie klingt, als wäre sie ganz kurz davor, ein
wichtiges Geheimnis zu lüften.
„Johnson“.
„Thomas
Johnson?“
„Ja“.
„Ha,
dann bist du der, den sie den „kleinen Hemingway“ nennen. Der,
der für die anderen immer die Aufsätze schreibt.“
„Nun
...“ versuche ich zu entgegnen.
„Und
du bist der, der mit einer seiner Geschichten, für unsere Schule
letztens einen Preis gewonnen hat. Mann, das ist klasse.“
Sie
scheint mit ihrer Kombinationsgabe sehr zufrieden.
„Na
ja, ich schreibe eben ganz gerne, und manchmal kommt eben auch
zufällig irgendwas Brauchbares dabei raus. Aber einen „kleinen
Hemingway“ nennen mich nur die, die mich nicht besonders gut leiden
können.“
„Ach
was“, Julia schüttelt mit dem Kopf, „du sitzt hier mit deinem
Schreibzeug, während die anderen in der Badeanstalt sind. So was
machen nur echte Schriftsteller, glaub mir“.
Mein
Fuß ist heiß von dem Hundehintern, der darauf sitzt, von meiner
rechten Hand tropft der Sabber, und neben mir sitzt eine leicht
verschwitzte Schönheit, die mich offensichtlich interessant findet.
Ich muss unbedingt sofort aufwachen, das kann nur ein Traum sein, das
gibt es nicht in der realen Welt!
Julia
rückt näher heran und sie riecht wie eine Meeresbrise, die durch
einen Orangenhain weht.
„Und,
Thomas Johannson, was schreibst du da so die ganze Zeit?“
„Nichts
Besonderes.“
„Ich
meine, worüber hast du heute so geschrieben?“
„Über
alles und nichts. Über alles, was so um mich herum passiert.“
„Um
dich herum? Dann hast du auch über Milli und mich geschrieben? Ja?
Los zeig mal“.
Sie
greift nach meiner Kladde und reißt sie mir aus der Hand.
„Nein,
warte!", rufe ich, aber es ist zu spät.
Julia
hüpft wie ein Gummiball über die Wiese und freut sich über ihre
Beute.
Dann
beginnt sie zu lesen …
Die
Kollegen fanden diese Zeilen, als sie das Zimmer von Thomas J.
durchsuchten.
Es
stellte sich heraus, dass er sie einen Tag vor seinem Verschwinden
geschrieben hatte. Eine Woche später wurde sein aufgedunsener
Leichnam unterhalb von Husum angespült. Wir konnten uns keinen
rechten Reim auf den Zustand seiner sterblichen Überreste machen.
Seine
rechte Hand wirkte wie abgebissen, ebenso seine Nase und seine Ohren.
Die
Brust schien von scharfen Klauen zerfurcht, und wenn wir auch
versuchten zu glauben, dass er Bekanntschaft mit einer
Schiffsschraube gemacht hatte, so gab uns doch etwas ein gewaltiges
Rätsel auf.
Seine
Geschlechtsteile fehlten, obwohl er eine intakte Hose trug.
Die
letzten Zweifel an einem tragischen Badeunfall wischte dann der
Obduktionsbefund vom Tisch.
Der
Tod war nicht durch diese Verletzungen, sondern durch einen
Kugelschreiber eingetreten, den man ihm ins linke Auge gerammt hatte.
Es
war sein Eigener.
Ich
nahm Kontakt zu Julia H, dem Mädchen, von dem Thomas geschrieben
hatte, auf.
Es
war keine Vorladung, nur ein Gespräch.
Wir
trafen uns an der gleichen Bank, auf der sie, nach der Beschreibung,
mit dem Opfer gesessen haben musste. Ein kleiner psychologischer
Vorteil meinerseits, wie ich hoffte.
Sie
kam, und es war, als durchlebte ich genau die Zeilen, die der „kleine
Hemingway“ geschrieben hatte.
Sie
stapfte und hüpfte mit ihren Gummistiefeln durch das Knöchel hohe
Gras, sie trug die gleichen, kurz abgeschnittenen Jeans, und ihre
braunen Locken spielten um sie herum. Sogar der Hund war da. Ein
altes Labrador Mädchen von wenigstens zwölf Jahren.
Julia
setzt sich neben mich auf die Bank und schenkt mir ein blütenweißes
Lächeln.
„Wir
waren es nicht, Herr Kommissar. Wir haben ihm nichts getan“, sagt
sie, und ich betrachte die vielen nebelfeinen Schweißtröpfchen, die
ihre braunen Schultern bedecken.
„Sehen
Sie“, sagt sie und streicht ihre Locken zurück, „ Milli kann ihn
nicht so zugerichtet haben, sie hat ja kaum noch Zähne. Und ich?
Glauben Sie denn im Ernst, ich könnte mich in so eine Furie
verwandeln? Eine, die einem armen Jungen einen Kugelschreiber ins
Auge stößt, ihm mit ihren Krallen die Brust zerschneidet, und ihm
zum Schluss sein bestes Stück abbeißt und es in diese Mülltonne da
neben ihnen spuckt?“
Ich
versuche mit meinen Augen nicht dieser kleinen Schweißperle zu
folgen, die gerade in ihren Ausschnitt kullert.
„Glauben
Sie, dass ich so eine bin?“
Sie
ist mit ihrem Mund sehr nahe n meinem Gesicht, und ihr Atem riecht
nach Anis und frischer Minze.
„Glaubst
du wirklich, Herr Kommissar, dass ich so eine bin?“
Sie
kann all diese Einzelheiten nicht wissen, geht es mir durch den Kopf,
wir hatten diese Informationen unter Verschluss gehalten ...
Sie
legt ihren Arm um meinen Nacken.
„Sag
schon, glaubst du, dass ich so eine bin?“
„Nein.“
„Und
du wirst auch nicht deine Pflicht tun und die Mülltonne
untersuchen?“
„Nein“.
„Dann
ist es gut“, sagt sie und haucht mir ein Küsschen auf die Wange,
"dann ist es gut.“
Sie
geht, und mir bleibt ein Atemzug von einer Meeresbrise, die durch
einen Orangenhain weht.
J.H.