Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Montag, 30. Mai 2011

EinTunnel nach Amerika

Ein Tunnel nach Amerika

Seht mal, da drüben“, Tante Gertrud streckte den Arm aus, und ihr kräftiger Zeigefinger deutete über das Meer. „Da hinten, da ist die Ostzone. Da wohnen die... Kommunisten.“ Sie verzog den Mund, als ob sie auf eine faule Miesmuschel gebissen hätte.
Wolli und ich kniffen die Augen zusammen und versuchten etwas zu erkennen, was uns aber nicht gelang.
Wir nickten trotzdem.
Sind die Kommunisten gefährlich, Tante Gerda?“
Sie beugte sich zu mir herunter. „Oh ja, Janek. Die vergewaltigen Frauen, brennen Häuser nieder und stehlen Wasserhähne. Aber ihr braucht keine Angst zu haben, sie dürfen hier nicht rüber. Die werden sofort erschossen, wenn sie es versuchen.“
Erschossen? Von uns?“
Sie richtete sich wieder auf, und ihr Schatten breitete eine angenehme Kühle über uns.
Die erschießen sich gegenseitig.“
Wolli und ich sahen uns an. 
Mit unseren sechs Jahren hatten wir keine Ahnung wovon sie sprach, aber wir waren tief beeindruckt, dass wir in einer so abenteuerlichen Gegend Urlaub machen durften.

Es war im Sommer 1966 und wir waren in Scharbeutz an der Ostsee.
Meine Tante Gertrud, Wolli, der eigentlich Wolfgang hieß, und ich.
Wolli trug eine Kassenbrille,die ihn leicht bescheuert aussehen ließ, und er lebte in Tante Gertruds Kinderheim. Sie war da nur angestellt, aber dass es „ihr“ Kinderheim war, daran hätte niemand zu zweifeln gewagt. 
Sie hatte 15 Kinder in ihrer Obhut, wenigstens zwei (einfache) Erzieherinnen unter sich, und ihr Haar zu einem festen Knoten gebunden.

Wolli war mit drei Jahren vom Jugendamt bei Tante Gertrud einquartiert worden, und im Laufe der Zeit hatte er sich einen besonderen Platz vor dem Fernseher und in ihrem Herzen erkämpft. Darum durfte er auch mit ihr in den Urlaub. 
Mich hatte sie mitgenommen, weil meine Eltern gerade erst ein altes Haus gekauft hatten und jetzt, nach Papas erstem Herzinfarkt, jede Mark zwei mal umdrehen mussten.

In Scharbeutz gab es die Promenade mit ein paar Andenkenbuden und Restaurants. Ein Kino, dass „Tarzan“ mit Johnny Weissmüller zeigte, einige Pensionen und den weißen Steg, der bis heute in die Ostsee ragt.

Wolli und ich bauten enorme Sandburgen, und waren schon nach wenigen Tagen von all den anderen braungebrannten Strandjungs mit strohblonden Haaren nicht mehr zu unterscheiden. 
Wir hatten Freischwimmer - Abzeichen an den Badehosen, der Hosenbund reichte uns hoch über den Nabel und durch die Hosenbeine pfiff der Wind. 
Tante Gerda bewohnte mit Kopftuch, Sonnenbrille und Sommerkleid den Strandkorb. Im Badeanzug habe ich sie leider nie gesehen. 
Sie las anspruchsvolle Boulevardblätter oder döste dem nächsten Milchreis entgegen, während wir Löcher buddelten, die fast bis nach Amerika reichten. 
Wir zerquetschten glibberige Ohrenquallen mit unseren nackten Füßen und hatten Sorge, dass uns eine von ihren berüchtigten Verwandten beim baden erwischen könnte. „Feuerquallen werden manchmal so groß wie LKW Reifen, und sie mögen blonde Jungen“, hatte uns ein freundlicher Eisverkäufer erklärt.
Eines Tages schlummerte die Tante in ihrem Strandkorb, und ich verwandelte mich in `rote Feder`, einen mutigen Strandindianer, der sich unbemerkt anschlich und ihre Sandalen „ausborgte“. 
Ich musste herausfinden, ob das Schuhwerk nicht nur über, sondern auch unter Wasser zu gebrauchen war. Es funktionierte tadellos.
Die Sandalen waren mir zu groß, aber man konnte damit trotzdem prima durchs Wasser waten, und der Sand kitzelte meine Zehen.
Wolli schaute überrascht, sagte aber nichts.
Ich war über meinen gelungenen Versuch hellauf begeistert.
Tante Gerda“, rief ich. „Hallo, Tante Gerda! Sieh mal, ich hab
Taucherschuhe.“ Wollis Augen wurden groß wie Kamm - Muscheln.
Die Tante schaute auf. 
Sie sah sich auf dem Boden um, stemmte sich dann mit Schwung aus dem Strandkorb hoch und stapfte entschlossen auf uns zu. Wolli verkroch sich in unserer Baustelle.

Der Held des Tages, stand bis zu den Knöcheln im Wasser und sah ihr in freudiger Erwartung entgegen. „Sieh mal Tante, richtige Taucher...“ „KLATSCH!“ 
Die Ohrfeige traf mit einiger Wucht meine linke Wange. Unerwartet, unverdient und schmerzhaft.
Du spinnst ja wohl,“ sagte sie und fischte meine Erfindung aus dem Wasser. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und stampfte mit geschürzten Röcken zurück in Richtung Strandkorb.
Wolli tauchte wie ein Maulwurf aus seiner Kuhle auf.
Ich hielt mir die heiße Backe, aber heulen tat ich nicht.
Er sah mich halb mitfühlend, halb spöttisch von der Seite an.
Du solltest eigentlich wissen, dass man dem Lieben Gott nicht die Sandalen klaut,“ sagte sein Blick.
Ich nahm meine Schaufel und machte mich wieder an an die Arbeit.
Unser Tunnel muss fertig werden“, sagte ich, „ vielleicht kommen die Kommunisten ja doch hier rüber, dann können wir abhauen.“
Meinst du echt, die kommen?“
Ist alles möglich.“
Der Tunnel ist ganz schön eng, die Tante wird da nicht durchpassen“, sagte Wolli.
Ich sah ihn an und zuckte mit den Schultern.
Wolli lächelte.



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