Moin Leute. Ihr wisst ja: "Es ist ganz leicht das Rauchen aufzugeben. Ich habe es schon hundert mal geschafft." (Mark Twain)

Mittwoch, 13. April 2011

Bier mit Eierlikör

Bier mit Eierlikör

Santa Claus hatte die Nase voll von Winter, Weihnachten und dem ganzen Zinnober. 
Er saß in seinem Doppeldecker und nahm Kurs auf den Frühling.

Der Bart war ab, die dicke Unterwäsche im Schrank verschwunden und den roten Kittel hatte er gegen ein „österliches Outfit“ eingetauscht. 
Er flog über Grönland, Island, an der Westküste Englands entlang und erreichte am späten Nachmittag den Hamburger Michel. Er landete auf einer Lichtung im Niendorfer Gehege, stieg aus und atmete tief durch. 
Alles um ihn herum duftete nach frischem Grün, zarten Knospen und Hagenbecks Tierpark. Zu seinen Füßen wuchsen vereinzelt Krokusse, die die Rehe übersehen hatten, und ein sanfter Wind wehte ihm ein Silberpapier entgegen. Ein Silberpapier? 
Santa sah sich um, und entdeckte noch mehr davon. 
Überall auf der Wiese taumelten diese kleinen glänzenden Blättchen herum. So ein Sauerei, dachte er, wer schmeißt denn hier einfach seinen Müll in die Gegend? 
Die flatternden Fetzen kamen alle aus der selben Richtung, und Santa stapfte los um die Quelle des Übels zu finden.

Am Waldrand lagen große Felsblöcke und als er näher kam, sah er zwei haarige Füße die dahinter hervorlugten. Es waren Hasenfüße Größe 50, und jemand, zu dem diese Füße gehörten, warf sein Silberpapier in die Höhe.
Dir werd ich helfen, dachte Santa, krempelte die Ärmel hoch und umrundete die Felsen. 
Er blieb stehen. „Du?“ sagte er.

Es war der Osterhase, der hinter den Steinen saß.
Ja, ich“, lallte der Hase, „ich bin es Herr Oberförster, der leibhaftige Osterhase. Ich sitze hier in Ihrem Wald, esse schon seit Stunden Eierlikör Eier und werfe meinen Müll in die Botanik. Wenn Sie mich jetzt verhaften wollen, denn könn Sie das ruhig tun – is sowieso schon egal.“ Er hob den Blick und stutzte. „Sie sehen heute aber komisch aus, Herr Oberförster. Is irgendwo Karneval?“
Der Weihnachtsmann stemmte die Hände in die Hüften und sah auf seinen Kollegen herunter. „Bist du betrunken?“
Noch nich ganz, aber bald.“ Der Osterhase steckte sich das Ei in den Mund: „Es ist nämlich gar nicht so leicht, sich mit Liköreiern zu betrinken, müssen Sie wissen.“
Der Weihnachtsmann ging in die Hocke.„Kumpel, was ist mit dir?“
Das geht Sie gar nichts an, Herr Oberförster. Das is meine ganz persönliche Privatangelegenheit.“
Aber ich bin nicht der Oberförster.“
Dann geht Sie das erst recht nichts an.“ sagte der Osterhase und wollte sich noch ein Ei aus seinem Korb nehmen. 
Der Weihnachtsmann legte ihm die Hand auf die Pfote. „Erkennst du mich denn nicht? Ich bin`s, Santa.“
Santa Claus?“, sagte der Hase und musterte ihn, dann schloß er die Augen und schüttelte den Kopf: „ Nee, Sie sind zwar auch ein Pummelchen, aber mein Freund Santa hat einen weißen Bart und ist viel viel dicker als Sie. Der hat`n Wanst wie `ne schwangere Seekuh und einen Hintern, wie `ne Nilpferd-Dame nach der fünften Niederkunft – bildlich gesprochen.“
Wie bitte?“
Ja, könn Sie ruhig glauben. Neben dem sieht ein Sumo Ringer aus, wie`n Strohhalm mit Esstörung. Der ist der verfressenste Kerl den ich kenne.“
Der verfressenste Kerl den du kennst?“
Sehr richtig“; sagte der Hase, „außerdem hat der immer so ein hübsches, rotes Plüsch - Jäckchen an. Damit sieht er aus, wie`n Wasserbett aus`m Rotlich - Milieu.“
Wasserbett?“
Genau.“
Der Weihnachtsmann griff den Hasen im Nacken und hielt ihn sich vors Gesicht. „Fusselkopp, es reicht!“
Niemand nennt mich „Fusselkopp“, außer meiner Mama und meinem Kumpel Santa Claus... Santa? Weihnachtsmann, bist du`s... wirklich?“ der Hase rieb sich die Augen.
Das kannst du wohl annehmen, deine Mama bin ich jedenfalls nicht.“
Oh Santa, du mein Weihnachtsmann“, sagte der Osterhase und fiel ihm um den Hals, „ach, das ist aber schön dich zu sehen.“
Is ja gut mein Freund, is ja gut. Nich so doll, ich kriege doch keine Luft mehr. Laß los jetzt. Lass los, ich hab eine Katzenhaar Allergie.“
Der Hase löste seinen Griff und sprang herunter.
Tschuldigung, ich hab mich wohl etwas gehen lassen.“
Schon gut, aber sag mal, was ist denn hier eigentlich los?“
Das ist eine längere und traurige Geschichte.“sagte der Osterhase.
Na dann lass uns zum Flugzeug gehen, da ist es warm und ich hatte noch kein Abendbrot.“ 
Sie gingen zum Flugzeug, stiegen ein und machten es sich gemütlich.

So Fusselkopp, dann erzähl mir doch mal wo der Schuh dich drückt.“
Der Osterhase holte tief Luft: „Also gestern, da war doch so schönes Wetter, weißt du, und da hab ich gedacht: Geh doch mal in den Tierpark. Da kannst du dich ein wenig in die Sonne legen und dich entspannen, bevor Morgen der Stress mit den Eiern wieder losgeht.“
Und?“
Hab ich auch gemacht. Ich bin über den Zaun gehüpft, habe mich auf eine Wiese gelegt und meine Nase in die Sonne gehalten.“
Und dann?“
Dann haben sie mich entdeckt und sind über mich hergefallen.“
Wer?“
Drei kleine Burschen. Vielleicht zehn Jahre alt. „Guckt mal, wer da liegt“, hat einer gerufen, „das ist der Osterhase.“ Dann sind die anderen gekommen. Ich hab gedacht, dass sie vielleicht ein Autogramm von mir wollen, aber von wegen. Die haben sich sofort auf mich gestürzt, meine Arme und Beine festgehalten und einer hat sich auf meine Brust gesetzt.
Haben wir dich, du Mistvieh“, hat er gesagt, „Du bist also der, der immer unsere Süßigkeiten versteckt, wie? Findest du das lustig? Und wo sind überhaupt die Eier mit Pokemon - Geschmack?“ Dann kamen die Väter und haben mich angebrüllt: „He Osterblödmann, was denkst du dir? Wegen dir müssen wir hier im Park spazieren gehen und das Grünzeug bewundern - und Bier gibt das hier auch nicht.“ Dann kamen die Mütter: „Sag mal Mümmelmann, hast du sie noch alle, die Eier immer so tief im Gebüsch zu verstecken? Die Kinder sind völlig verdreckt und die Klamotten sind hin. Das wirst du uns ersetzen, du Spaßvogel.“ Dann wurde es wirklich schlimm, denn ein paar ältere Damen drängelten sich vor: „Ach sieh da, der Herr Osterhase, das ist ja schön, dass wir uns mal begegnen. Siehst du diese Speckrollen hier? Die kommen von deinen Nougat- Eiern. Und dieses Doppelkinn? Das kommt von deinem Marzipan. Und dieser dicke Hängehintern, den ich Tag für Tag mit mir herumschleppen muß? Glaubst du, dass der von deinen fettreduzierten Mousse au chocolat – Eiern kommt?“ Der Hase verzog das Gesicht:  "Es war ekelhaft, sage ich dir.“
Und“; sagte der Weihnachtsmann, „ wie bist du ihnen entkommen?“
Ich habe ein bisschen Spucke gesammelt und damit Schaum vor meinem Mund gemacht, dann habe ich den Bengel in den Arm gebissen, mit den Augen gerollt und den „tollwütigen Rammler“ gegeben. Das hat sie für einen Moment erschreckt und ich konnte abhauen.“
Meine Güte“, sagte Santa Claus, „und was jetzt?“
Jetzt wollen sie, dass der Förster mich abschießt. Morgen früh. Anstatt auf Eiersuche gehen sie auf Hasenhatz.“
Und du?“sagte der Weihnachtsmann.
Ich? Ich werde kündigen, was dachtest du denn? Ich verschwinde von hier. Die sind doch nicht ganz dicht, erst denken sie sich Leute wie uns aus, und dann...?“
Der Weihnachtsmann kratzte sich am Kinn, dann schüttelte er den Kopf.
Nein, mein Freund, so geht das nicht. Wenn die Menschen sich was von uns wünschen, dann sollten wir ihnen diesen Wunsch auch erfüllen.“
Spinnst du Santa? Soll ich mich etwa von denen abknallen lassen?“
Nein Fusselkopp, natürlich nicht. Ich meine etwas anderes.“
Und was?“
Hm, sie wollten doch gerne Pokemon-Geschmack, oder?“
Ja.“
Pokemons schmecken nach Lebertran, glaube ich.“
Das kann sein.“
Und Bier-Füllung wollten sie haben?“
Ja.“
Und etwas, das nicht dick macht?“
Das auch.“
So was wie Handkäs vielleicht, oder fauler Fisch?“
Klingt gut“, sagte der Osterhase.
Und, glaubst du, dass dein Körbchen so was produzieren könnte?“
Mein Körbchen kann jede Geschmacksrichtung und jedes Aroma herstellen, das ich will. Wie wäre es zum Beispiel mit „Hühnerkacke“, oder „Weißkohlpups“ oder „Currywurstkotze?“
Nicht übertreiben, mein Freund.“
Schade.“
Aber Hühnerkacke wäre passend, finde ich.“ sagte der Weihnachtsmann, „und wie viele könnte dein Körbchen davon machen?“
Ohne Ende.Der Korb ist das neueste Modell, der lädt automatisch nach, sooft wie wir wollen.“
Siehst du, dann haben wir ja alles was wir brauchen, und wir haben sogar ein Flugzeug dabei um diese köstliche Fracht bei ihnen abzuliefern. Sie werden nicht mal suchen müssen.“
Das wird eine schöne Bescherung.“ sagte der Hase.
Oh ja, mein Freund, das wird es ganz bestimmt. Aber jetzt sollten wir ein bisschen schlafen, damit wir morgen auch richtig fit sind für unseren Einsatz.“
Da hast du recht“, sagte der Hase, „ aber Santa, was werden wir machen, wenn die ganze Schweinerei hier vorbei ist?“
Dann lieber Fusselkopp, fliegen wir an die Küste und machen Urlaub. Wir mieten uns einen Strandkorb und trinken Bier mit Eierlikör.“
Oder Eierlikör mit Bier.“
Von mir aus auch Eierlikör mit Bier.“
Weil ja Ostern ist.“
Ganz genau, weil Ostern ist.“

Dienstag, 15. März 2011

Pretty Potato

Pretty potato


Es war Donnerstag in Nürnberg.
Anderswo war es natürlich auch Donnerstag, aber hier, auf dem Platz vor dem Rathaus, wurde der älteste Wochenmarkt Deutschlands abgehalten. Das war das Besondere.
Jede Woche, jeden Donnerstag, seit mehr als tausend Jahren.
Könige waren gekrönt und enthauptet worden, man hatte Päpste gewählt und zum Teufel gewünscht, Hexen verbrannt und Kriege jeder Art geführt.
Der Markt interessierte sich nicht dafür. Er öffnete um sieben und schloss um zwei. Das war Tradition und daran änderte sich nichts.

Die Gesichter der Händler waren vom Wetter zerfurcht, und ihre Stimmen waren ebenso rauh wie ihre Hände.
Sie priesen ihre Waren an, das Kleingeld klimperte, die Würstchen zischten auf dem Rost und das Federvieh hatte dunkle Vorahnungen.
Im Schatten, unter Hubers Obst - und Gemüsestand lag eine leicht verschrumpelte Kartoffel.
Sie hieß Cilena und war am Morgen vom Tisch gefallen.
Cilena genoß die Kühle und den Frieden.
Hier würde sie niemand behelligen. Keine Menschenhände würden sie heute befingern und dann als „zu alt“ zurück legen. Heute nicht.
Nein, heute war ein guter Tag, davon war sie überzeugt.

Pluto, ein reinrassiger Retrievermischling aus gutem Hause, hatte sein betrunkenes Herrchen im Biergarten sitzen gelassen und schnüffelte auf verschlungenen Pfaden allein durch das Gewimmel.
Ja, nichts roch so gut, wie ein Markttag im Sommer.
Vor allem unter und hinter den Ständen,da wo man nicht hin durfte. Bleiche Fischköpfe mit glasigen Augen gab es da, geronnenes Schweineblut und manchmal sogar eine grüne Leberwurst mit leichtem Schimmelpilz.
Plutos Nase konnte sich keinen anderen Himmel vorstellen.

Cilena hing ihren Gedanken nach.
Ach,es gab so vieles, worüber man als Kartoffel in mittleren Jahren nachsinnen musste.
Es waren nicht etwa Themen wie Falten oder Altersflecken, die sie beschäftigten. Oh nein,es waren die großen Fragen um die es ging.
Wie konnte man dem Hunger auf der Welt begegnen, ohne die Kartoffeln zu benachteiligen?
Wie konnte man den ewigen Konflikt mit den Menschen beilegen, die sich doch immer neue Gemeinheiten gegen ihr Volk ausdachten?
Wie konnte man so schaurige Begriffe wie: BRAT-Kartoffeln, Pommes FRITES ( eine französische Form der Barbarei), PELL-Kartoffeln oder Kartoffel-BREI ein für alle mal aus dem Wortschatz der Welt verbannen? Die Erinnerung an das Schicksal ihrer mehlig - kochenden Verwandtschaft jagte ihr gerade kalte Schauer über den Rücken,als sie sich einer feuchten Hundeschnauze gegenüber sah.
Ein Monstrum, ein Kartoffelfresser! Es hatte sie entdeckt.
Die schwarze Nase glänzte, schnüffelte und schnaubte, dass es Cilena durch durch Keim und Pelle ging.
Sie sah die Leberwurstreste zwischen seinen Reißzähnen, sah seine Zunge die lüstern aus dem Maul baumelte und roch seinen fauligen Atem.
Unter ihrer bescheidenen Schale war sie noch immer eine köstliche Knolle, und dieses Ding würde sie verschlingen, ganz bestimmt.
Die Welt wurde blendend hell, und Celina wurde ohnmächtig.

Pluto legte den Kopf schief und fragte sich, was er da denn wohl gefunden hatte. Gut riechen tat es jedenfalls nicht. Ein Ball vielleicht? Pluto war kein großer Denker, also stupste er seine Entdeckung probehalber mit der Nase an.
Diese Berührung kam einem Küsschen gleich und augenblicklich
machte es „FUMP!“
Ein Geräusch,wie das Platzen einer kolossalen Kaugummi Blase.
Der Obststand wurde in die Höhe gestemmt, Kisten polterten zu Boden, das Gestänge der Überdachung knickte ein und eine Welle von Südfrüchten brandete den Marktbesuchern entgegen.
Den Huberbauern, dem der Stand gehörte, haute es von den Füßen und er krachte rücklings in die Wassermelonen.
Aus den Trümmern erhob sich eine Gestalt.
Sie trug ein Dirndl so rot, wie ein Feuerwehrauto und die Reste einer Pampelmuse klebten in ihrem Haar.
Plutos Kuss hatte Cilena zurück verwandelt in das,was sie eigentlich war: Eine gut erhaltene Bäuerin von knapp fünfundfünfzig Jahren.
Ja, mi leckts am...“ entfuhr es dem Huberbauern. Er hatte sein Lebtag noch keine Erscheinung gehabt, aber dies war ganz bestimmt eine, das war sicher. Von einer höheren Macht hervorgerufen. Vom lieben Gott, oder vielleicht sogar vom Bayerischen Rundfunk.
Alois Huber lag in seinen Wassermelonen, bekam eine feuchte Hose und den Mund nicht wieder zu. So etwas Schönes wie Celina hatte er zuletzt im Kino gesehen.
Amors Pfeil steckte tief in Alois Stirn und es war ihm egal, dass die Liebe angeblich blind machen sollte,
Hauptsache der Rest funktionierte.

Sie wurden ein Paar, der Alois und die Celina, sie heirateten schon bald im Rathaus zu Nürnberg und Pluto bekam zur Belohnung
so viele Weißwürste und so viel Starkbier, dass er auf die Marmortreppen kotzte.
Alois und Cilena wurden glücklich miteinander, und nur manchmal verdunkelte eine kleine Wolke den Himmel über Cilenas Seligkeit,
denn Alois war ein großartiger Bursche und ein diensteifriger Liebhaber, aber der Pluto, der küsste eindeutig besser. 




 

Sonntag, 13. März 2011

Marlboro und Bauernrosen


Marlboro und Bauernrosen

Fast geräuschlos gleitet ein Nachtzug aus der Halle. 
Der Bahnsteig ist leer, bis auf mich. 
Ich stecke mir eine Zigarette an, und sehe ihm hinterher, die Schlusslichter werden kleiner. 
Es ist Samstag, der 23. August. Ein warmer Abendwind weht um meine Hosenbeine und spült den Duft von Bauernrosen und alten Zeitungen durch die Bahnhofshalle.
Die roten Lichter verschwinden in Dunst und Dunkelheit. 
Nur ein schabendes Pfeifen ab und zu, und das typische ta-tack ta-tack ist zu hören, wenn die Waggons über die Nahtstellen der Gleise fahren.
Ich rauchte nicht gern, es bekommt mir nicht.
Es macht mir Kopfschmerzen und ein gemeines Kratzen im Hals, aber es muss sein, der Cowboy auf dem Plakat gegenüber raucht schließlich auch.
So sieht ein richtiger Mann aus. Mit kleinen Fältchen um die Augen und kräftigen Händen. Mit breiten Schultern und einem Lächeln, das die Kerle auf Abstand hält, und den Damen Herzklopfen macht.
Die Anzeigentafel über mir rattert die nächsten Abfahrtszeiten herunter.
Es ist 23Uhr18.
Der ICE zeigt sich in der Einfahrt. 
Ein Pfeifen und Surren der Schienen begleitet seinen Auftritt. Ich werfe die Kippe auf den Boden, spurte los und renne einige Meter vor der Schnauze her - der Lokführer soll mich sehen. Der Mann im Führerhaus macht große Augen. Er tritt auf die Bremse, er zieht an den Hebeln, aber es ist zu spät. Noch ein, zwei große Schritte, dann werfe ich mich seitwärts, mitten hinein in das Kreischen der Räder.
Der Express berührt meine Brust nur flüchtig, dann begräbt er mich unter Tonnen von veröltem Stahl.
Ich schlage mit dem Hinterkopf, badambadam gegen die Schwellen – dann der Geruch von Urin und Teer - dann Dunkelheit.
Die Vorderachse zerreißt mir den linken Arm, ich werde quer über die Gleise geschleudert und einer der Radreifen schneidet meinen Oberkörper in zwei ungleiche Hälften - das war´s.

Ich komme jeden Abend hierher – immer pünktlich.
Ich stellte es mir vor, immer und immer wieder.
Dann wird mir schlecht.
Na du Held? Hast wohl`n schwachen Magen, wie?“
Jemand lacht, aber ich bin allein auf diesem Bahnsteig...
Du Möchtegern Selbstmörder. Schaffst es wieder nicht, was?“
Wer...?“ Ich sehe mich um, kann aber niemanden entdecken.
Hier drüben, Brillenschlange.“
Wo?“
Hier auf deinem Lieblingsplakat, Mensch.“
Es ist der Marlboro-Mann. Er bewegt sich nicht, aber er spricht mit mir.
An der Wand neben ihm lehnt eine Leiter, die wohl jemand vergessen hat. Meine Fantasie ist schuld, ich habe zu viel davon.
Fantasie? Wenn du Fantasie hättest, dann hättest du Micky Maus erfunden, oder so was“, sagt er.
Ich verstehe nicht...“
Wie, du verstehst mich nicht. Soll ich lauter reden, kleiner Mann? Hast wohl außer deinem Hirnschaden auch noch was mit den Ohren, wie?“
Sie reden mit mir“, sage ich.
Sehr richtig, gut erkannt. Ich rede mit dir, kleiner Mann. Und willst du auch wissen, warum ich das tue? “
Ja.“
Well, ich will es dir sagen, Shorty, oh ja, das will ich. Ich rede mit dir, weil du mich ankotzt! Weil ich mir dein langweiliges Theater hier jeden Abend ansehen muß. Deinen „Sterbender Schwan“- Schwachsinn.
Weil du hier auf meinen Bahnsteig kommst um dich umzubringen, aber zu feige bist, es wirklich zu tun, und...“
Ich bin nicht...“
Was bist du nicht?“
Ich bin nicht feige.“
Ach nein? Was bist du denn dann?“
Ich habe nur...“ sage ich.
Sein Lachen weht eine leere Chipstüte auf die Gleise.
Was hast du? Nichts hast du. Weil du kein Mann bist. Du bist gar nichts. Du bist nicht mal ein Mädchen.“
Ein Mädchen?“
Klar mein Freund. Wenn du ein Mann wärst, würdest du tun, was ein Mann tun muss. Wenn du ein Mädchen wärst, dann würdest du sagen: „Pfeif doch drauf“, und machen was du willst, aber so?“
Ich bin ein Mann“, sage ich.
Er lacht und hustet gleichzeitig.
Nein.“
Ich bin ein Mann.“
Bist du nicht.“
Ich werde es beweisen.“
Wie willst du es beweisen?“
Ich werde es tun.“
Was willst du tun, dich vor den Zug schmeißen?“
Ich werde es tun.“
Wann?“
Morgen...Morgen Abend.“
Morgen Abend?“
Ja.“
Gut, Shorty, ich werde hier sein.“

Ich drücke die Zigarette sorgfältig im Aschenbecher aus, dann steige ich mit steifen Knien die Treppe hinunter. Nur wenige Leute mit Koffern und Taschen kommen mir entgegen.
Mein Magen fühlte sich an wie ein Knoten aus rostigem Eisen, und hinter meinen Schläfen wütet ein wahnsinniger Trommler.
Bevor ich den Kiosk betrete, betrachte ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe.
Niemand trägt eine beige Windjacke, braune Hosen und schwarze Schnürschuhe die auf Hochglanz poliert sind, weil man seine Schuhe pflegen muss. Niemand. Der Marlboro Mann hat recht.

Oh hallo, guten Abend, der Herr. Einen kleinen Jack Daniels und einmal „Freiheit und Abenteuer“ wie üblich?“ Die Dame vom Kiosk ist freundlich, sie ist immer freundlich – zu jedem. Wie die Huren am Hafen.
Zigaretten habe ich noch genug, aber ich will ihr nicht widersprechen. Älteren Damen widerspricht man nicht.
Ja, bitte.“ sage ich.
Hier bitteschön, der Herr. Das macht dann neun Euro fünfzig.“
Ich hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche, nehme einen neuen Zehner heraus und streiche ihn sorgfältig glatt, bevor ich ihn auf die Theke lege. Die Kasse klingelt.
So, hier sind fünfzig Cent zurück. Vielen Dank.“
Draußen in der Vorhalle singt ein Straßenmusikant: „Johnny be good...“ und drischt auf seine Gitarre ein. Ich sehe mich in dem Kiosk um.
Ach, den Filzstift da, den hätte ich gerne auch noch“, sage ich.
Diesen hier?“
Nein, den dicken roten da hinten.“
Diesen?“
Ja, bitte.“
Dann sind das nochmal drei-fünfzig, der Herr.“
Hier, bitteschön.“
Vielen Dank“, sagt die freundliche Dame, „ und einen schönen Abend noch.“
Ich nehme meine Sachen und verlasse den Laden.
Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss“, geht es mir durch den Kopf. „Go Johnny, go!“
Ich steige die altbekannten 68 Stufen zum Bahnsteig wieder hinauf.

Nanu, kleiner Mann, du wolltest doch erst Morgen kommen?“
Ich gehe auf das Plakat zu und greife in meine Jacke.
Was hast du da, Shorty? Was hast du vor?“
Ich nehme die Leiter und steige zu ihm hinauf, jetzt sehe ich direkt in sein strahlend blaues Auge.
Was soll das werden, nimm die Leiter da weg“, sagt er.
Ich nehme den Filzstift und male ihm eine große, runde, rote Nase.
Sehr sorgfältig, dann steige ich runter und stelle die Leiter zurück.
Was hast du gemacht? Verdammt, ich kann es nicht sehen. Los du kleine Schwuchtel, rede!“
Ein Lächeln zupft an meinen Mundwinkeln
Ich bin ein Mädchen“, sage ich,“und ich Pfeif` was drauf!“
Tauben flattern durch die Halle.

Ich habe schon lange nicht mehr so gelacht...














Samstag, 19. Februar 2011

Picknick in Sodom

Picknick in Sodom

Ein Kater ohne Maus ist ein armes Schwein!“ So stand es auf einer grauen Häuserwand in der Ritterstraße 15. Daneben sah man eine schielende Katze, und eine Maus mit knallroten Lippen. Es mag sein, dass es in Paderborn langweilige Straßen gibt, aber die Ritterstraße gehört nicht dazu.
Eine weitere Attraktion befand sich kaum fünfzig Meter weiter. Das „Ladyshape“, ein Fitness Studio in dem Männer keinen Zutritt hatten.
Die Schaufenster waren mit Milchglasfolie beklebt, und man musste schon größer sein als ein Meter fünfundachtzig, um darüber hinweg blicken zu können.

Jürgen war größer als ein Meter fünfundachtzig.
Er ging fast jeden Tag durch die Ritterstraße, er sah jeden Tag das Graffiti mit der schielenden Katze, aber die durchgeschwitzten Damen, denen der tropfende Pferdeschwanz in den Nacken hing, die hatte er noch nie beobachtet.
Jürgen war 36 , wohnte bei seinen Eltern in der Mansarde und wusste nicht, wie gut es ihm ging – wie sein Vater sagte.
Er hatte einen krisenfesten Job im „Bestattungshaus Erich Bohnsack & Sohn“ in der Nähe der Martinskirche.
Jürgen wählte liberal, trank keinen Alkohol und hatte noch nie eine Zigarette oder ein Mädchen angefasst.
Er aß vegetarisch, bekam ausreichend Taschengeld und würde, eines Tages ( nachdem er seine Eltern zum Einkaufspreis bestattet hatte) das Geschäft seines Vaters übernehmen.
Obwohl es Jürgen Bohnsack an nichts fehlte, denn er hatte nicht nur Satelliten – Fernsehen, sondern war auch Vizemeister im Bielefelder Puzzle Club, antwortete er dennoch auf eine Kontaktanzeige, die er auf „Mr. Loverlover.de“, einer Partnerbörse im Internet, gefunden hatte. 
 
Blonde Akademikerin, 28, schlank, vielseitig interessiert, sucht weltgewandten Ihn mit dem gewissen Etwas.“
Diese Frau hatte von Anfang an keinen guten Einfluss auf ihn. 
Sie machte ihn schon nach dem ersten telefonischen Kontakt zum Lügner. Für sie frisierte er seinen Lebenslauf, korrigierte sein Alter und belog seine Eltern.
Er gab vor, an diesem Morgen nach Essen zu einem Puzzle Turnier zu fahren, aber in Wirklichkeit fuhr er mit dem Zug nach Köln, um Sie zu treffen.
Jürgen war jetzt nicht mehr Jürgen Bohnsack, der Bestattergehilfe aus Paderborn, sondern Jürgen Martin, ein erfolgreicher Broker aus Frankfurt, dem enge, schwarze Anzüge besonders gut standen.
Nachdem der Zug den Rhein überquert hatte, und langsam in die Halle des Kölner Hauptbahnhofs einfuhr, sah Jürgen aus dem Fenster.
Da stand sie, Corinna.
Sie war genau so blond, genau so schlank und genau so hübsch, wie er es sich vorgestellt hatte.
Der Fahrtwind spielte mit ihren Locken und zupfte an ihrem Blümchenkleid.
Jürgen stieg aus dem Zug und ging auf sie zu. Er lächelte und hatte eine Schachtel mit Erfrischungsstäbchen dabei. Frauen mögen Erfrischungsstäbchen.
Hallo, Sie sind...du bist Corinna, oder?“
Ja.Und du, du bist der Jürgen.“
Hier, für dich.“
Oh, das is aber nett von dir,...danke. Ich hab auch was mitgebracht.“
So?“
Hier, ein Picknickkorb mit vielen schönen Sachen drin.“
Und was machen wir damit?“
Wir fahren jetzt mit der Bahn in den Stadtwald, und da machen wir es uns schön – Komm!“ Sie hakte sich bei ihm ein und duftete genauso unglaublich gut nach Flieder und Zitronenmelisse, wie die Öllämpchen bei dieser besonders geschmackvollen Beisetzung, die Jürgen im letzten Jahr ausgerichtet hatte.
Die Bahn rumpelte sie bis an die Haltestelle „ Dürener Straße/Gürtel“, da stiegen sie aus und schlenderten den restlichen Weg bis zum Ententeich zu Fuß weiter.
Hier Jürgen, hier ist es schön, hier tun wir die Decke hin, ja?“
Jürgen nickte und hatte Mühe ihr nicht allzu unverschämt in den Ausschnitt zu sehen.
So, dann wollen wir doch mal sehen, was wir so alles dabei haben.“ Corinna fing an den Korb auszupacken.
Brot, Käse, Weintrauben, eine Leberpastete, saure Gürkchen, etwas klein geschnittenes Gemüse, eine Flasche Bordeaux und zwei Piccolos mit französischem Schaumwein.
Jürgen sah sich um.
Sie waren nicht die Einzigen auf dieser Wiese.
Gleich rechts von ihnen saß eine Frau in mittleren Jahren auf einem Klapphocker. Sie trug einen Strohhut und las in einem Buch. Alle paar Minuten stieß sie einen Seufzer aus, kicherte in sich hinein oder klappte es sogar zu, um das gerade Gelesene mit einem: „Ach du liebe Zeit“, oder „Oh Nein, oh nein, ich lach`mich tot...“ zu kommentieren. Dann betrachtete sie einen Moment den Einband, wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte:„Janek, Janek du bist doch der Beste.“
Die anderen Gäste waren anders. Da gab es Männer, die mit anderen Männern auf einer Decke saßen. Männer, die wie Frauen aussahen, und mit Männern, die auch nicht besonders männlich wirkten, herum turtelten. Manche wirkten wie echte Frauen, aber die hatten dann eine Frau dabei, die aussah wie ein Mann. Es gab eine Gruppe Neger, die ihre Heimatmelodie trommelten, Punker mit großen Hunden und einen Karnevalsprinzen der seinen Rausch ausschlief.
Es war nicht, wie in Paderborn.
So,dann wollen mir erst mal ein Sektchen auf das schöne Wetter... Jürgen, was is mit dir?“
Er deutete in die Runde. „Was ist das?“
Corinna lachte. „Ach, das is hier in Köln ganz normal. Hier kann jeder so jeck sein, wie er will, wir sind da sehr liberal. Hier trink ein Schlückchen und guck nich so.“
Jürgen trank ein ordentliches „Schlückchen“ und beschloss beim nächsten Mal doch lieber die Union zu wählen.
Der Champagner entspannte ihn, und sie machten sich über die Spezialitäten aus dem Körbchen her.
Die Leberpastete lehnte er dankend ab, aber Bordeaux und Käse waren eine köstliche Verbindung. Die ungewohnte Nachbarschaft verschwand aus seinem Blickfeld, und nach einer Weile gab es außer Corinna nichts anderes mehr, was ihn interessierte. Ihre Blicke trafen sich immer öfter und er musste sich wirklich zusammenreißen, um ihr nicht dauernd auf den Mund zu starren.
Möchtest du noch?“ fragte sie.
Wie?“
Wein, meine ich... möchtest du noch welchen?“
Was?“
Noch ein Schlückchen, ja?“
Ich weiß nich...“ sagte er.
Ja?“
Nein, ich hätte lieber was anderes...“
Was anderes? Schlückchen Sekt, oder Wasser?“
... ein Küsschen hätte ich gern. Das würde mir gefallen, glaube ich.“ Jürgen blickte herausfordernd auf seine Zehenspitzen.
Ein Küsschen?“
Ja,...das würde mir gefallen.“
Da müssten wir aber erst ein paar Krümmel von deiner Schnüss entfernen.“
Das könnten wir doch machen...ich meine, Du könntest das ja vielleicht...machen.“
Ich soll das machen? Warum?“
Hab gerade keine Zeit..“sagte er.
Du hast kein Zeit?“
Nein,...ich muss gerade an was besonders Schönes denken.“
Woran musst du denken?“
An Dich...“

Corinna ließ die Serviette fallen, die Krümel blieben, wo sie waren und sie kam über ihn wie eine Südseewelle. Weich, feucht, warm und unwiderstehlich. Jürgen hatte dem nichts entgegen zu setzen und sank rückwärts ins Gras.
An seinem Hinterkopf fühlte er etwas weiches - das konnte die Leberpastete sein, oder auch der Camembert, aber das war in diesem Moment nicht wichtig. Wichtig war nur Corinnas Mund, der auf seinem Gesicht eine kühle Spur hinterließ, und wie der eines hungrigen Säuglings nach seinen Lippen suchte.
Sie verbiss sich in seiner Unterlippe, dann war sie plötzlich überall. Wie ein Krake mit acht Armen und Beinen, mit Knien, Händen, Füßen, einer Unzahl von Brüsten und Fingernägeln.
Jürgens freudige Überraschung wandelte sich in Panik.
Er krallte seine Finger ins Gras und bekam einen Krampf in der linken Wade. Er griff in ihre goldenen Locken, um sie von sich weg zu ziehen, was Corinna jedoch falsch verstand, und ihre Anstrengungen verdoppelte.
Jürgen wollte sich geschlagen geben, wollte ein Ende machen und schlug mit der flachen Hand auf den Boden, wie es unterlegene Ringer tun, aber Corinna bemerkte es nicht.
Er schlug mit beiden Händen auf den Rasen, was sie als sicheres Zeichen dafür deutete, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand.
Jürgens Hände trommelten auf das frische Grün. Corinna zerriss sein Hemd und bearbeitete seinen Hals.
Jürgen zappelte mit den Beinen, was seine Krämpfe linderte, Corinna aber in keinster Weise irritieren konnte.
Dann gab er auf.
Es hatte keinen Sinn, er war ihr nicht gewachsen,
Er entspannte sich und ließ geschehen, was er nicht ändern konnte.
Wie ein Sommergewitter, dass aus heiterem Himmel hereinbricht und dann genauso schnell wieder verschwindet, war es vorbei.
Corinna schwang sich von ihm herunter, schüttelte ihre Locken und setzte sich in keuscher Anmut zurück auf ihren Platz.
So, ungefähr?“ sagte sie.

Jürgen setzte sich auf - Applaus brandete ihm entgegen.
Weiter,weiter. Meeeehr davon!“
Bütze, Bütze! Los Jung`,los !“
Jürgen blinzelte in die Runde - es waren die merkwürdigen
Nachbarn“. Sie klatschten und grölten und schlugen sich auf die Schenkel.
Los Jung`, du bis dran! Zieh et Hemd aus und zeich mal wasse kanns.“
Jenau! Du bis jetzt dran mit Küsschen geben!“
Ja Jung, kratz dich den Käse vom Kopp un leg los.“
Auch die Dame mit dem Sonnenhut schlug im Takt auf ihre
Lieblingslektüre.
Corinna nippte an ihrem Glas und sah ihm merkwürdig schüchtern entgegen.
Schüchtern, aber erwartungsvoll.
Ihre braunen Augen waren wie Strudel, wie Tore in eine andere Welt, von der Jürgen nichts wusste.
Er wollte aufstehen, aber der Schwindel in seinem Kopf ließ seine Beine zu Lakritze werden.
Die Negerband übernahm den Groove der älteren Dame, eine Narrenkappe flog durch die Luft und kreuzte die Flugbahn eines schwarzen Lederkäppis.
Er musste weg
Jürgen kroch auf allen Vieren davon, aber er kam nicht auf die Füße. Er schlingerte und schwankte. Seine Beine versagten den Dienst. Er landete im Duft des Rasens und der Gänseblümchen, die er vorher noch nie so groß gesehen hatte. Das Klatschen und die Rufe tosten und rauschten um ihn herum. Er fühlte sich wie ein Quarterback den man gefoult hatte. 
 
Der Applaus, der Jubel das Getrommel und die begeisterten Pfiffe – es war wie in einem Stadion. Und das waren seine Fans, die ihn anfeuerten - Ihn!
Er war der Quarterback an den sie glaubten!
Er musste es schaffen... und er würde es schaffen.
Für sie, für sich selbst und für Corinna.
Jürgen zog sich das T-Shirt über den Kopf.

Es war spät, als er endlich wieder zu hause ankam.
Als er nach seinem Schlüssel suchte, ging die Außenbeleuchtung an, und die Tür öffnete sich.
Jürgen?“
Ja, Mama.“
Hör mal, wieso kommst du eigentlich erst jetzt...aber wie siehst du denn aus? Und wie du riechst! Hast du etwa...Alkohol getrunken?“
Jürgen drückte sich an ihr vorbei.
Bin überfallen worden.“
Überfallen? Hier in Paderborn?“
Nein Mama, in Sodom.“ er stieg die Treppe hinauf.
In Sodom? Also ich verstehe kein Wort..Sodom und Gomorrha?“
Da auch.“
Und was hast du da in deinen Haaren?“
Camembert.“








Donnerstag, 17. Februar 2011

Das Beste am Sex

Das Beste am Sex

Bruno Blümchen hat den falschen Namen.
Er gehört zu den wenigen Leuten, die beim betreten eines Raumes nicht nur den Kopf einziehen, sondern auch den Oberkörper seitwärts drehen müssen, damit sie nicht in der Türöffnung stecken bleiben.
Bruno ist Steuermann und Besatzung in einer Person auf der „Olga“, dem Kutter von Kapitän Hansen. Mehr Leute braucht Hansen nicht.

Am letzten Samstag saßen wir, wie immer, im „Anker“ und tranken schweigend unser Bier. Manche Leute halten uns Küstenbewohner deshalb für ungesellig und wortkarg, aber das stimmt nicht. Das ist nur ein Gerücht, das die Rheinländer über uns verbreiten.
Bruno und ich saßen also zusammen an einem der gescheuerten Holztische und sahen dem Rauch unserer Zigaretten hinterher. Wir hatten gerade unser sechstes Bier in Arbeit, da legte er mir plötzlich seine Pranke auf den Arm uns sah mich aus wässrig – blauen Augen an.
Jan“, sagte er.
Hm?“
Du bist doch mein Freund, oder?“
Ja.“
Jan, mein Freund, soll ich dir mal was verraten?“
Was?“
Ich hab` da was raus gefunden.“
Ach.“
Er nahm einen kräftigen Schluck, als ob er sich erst Mut antrinken müsste. Dann kratzte er sich am Kinn.
Ja“, sagte er, “weißt Du eigentlich, was dat Beste am Sex ist?“
Wie?“
Ich frage dich, ob du weißt, was das Beste am Sex ist.“
Die Stimmen am Nachbartisch wurden deutlich leiser und ich fühlte mich völlig überrumpelt. Also versuchte ich kein allzu dummes Gesicht zu machen und zuckte mit den Schultern.
Bruno drehte sich zu den Anderen um.
Wenn ihr hier schon zuhört, dann könnt Ihr mir das ja vielleicht mal sagen.“
Was sollen wir dir sagen?“
Bruno machte eine ausholende Bewegung und sein Bier schwappte auf die Hose von Karl Martens unserem Krabbenhändler.
Ich will von euch wissen, was dat Beste am Sex ist, ihr Plattfische!“
Martens holte sein Taschentuch raus und versuchte seine Hose zu trocknen. „Mensch Bruno, was machst du hier für`n Aufstand. Jetzt sieh dir mal meine Hose an. Ich stink` jetzt ja wie`n ganzer Bierlaster.“
Dat macht nichts, Karl, normaler weise riechst du wie`n Fischmarkt“, Bruno erhob sich. Er wich der Deckenlampe aus und schwankte rüber zu Martens und den anderen Männern.
Ich will von Euch wissen...“ sagte er und hob seinen Arm, „was dat Beste am Sex ist!“ Seine Faust donnerte auf die Tischplatte. Der Aschenbecher verteilte seinen Inhalt gleichmäßig auf dem Fichtenholz und die Männer konnten nur mit Mühe ihre Gläser retten.
Bruno, laß` uns in Ruhe. Wir sind doch alle viel zu lange verheiratet, um uns an sowas noch zu erinnern“, Bernd Claasen unser Hafenmeister war sichtlich verärgert. Die anderen nickten.
Also, ich weiß das schon...“, hörte man auf einmal eine dünne Stimme aus dem Hintergrund. Es war Fiete Osterhaus, unser Postbote.
Wat weißt du?“ sagte Bruno.
Na, ich weiß da schon was von...von den Sex und so...meine ich.“
Ach ja?! Dann erzähl uns doch mal, was du so alles weißt.“
Brunos Zeigefinger zielte in Fiete`s Richtung.
Der arme Fiete hatte noch nie eine besonders gesunde Gesichtsfarbe gehabt,, aber jetzt sah er aus, wie ne Wasserleiche nach drei Tagen.
Er nippte tapfer an seinem Alsterwasser und sagte: “Ja, also..will mal sagen... wenn die Deern zum Beispiel eigentlich ganz hübsch ist...Und wenn man denn auch vielleicht gerade zufällig hinterm Deich...oder auch inner Scheune...und wenn das dann da so schön warm ist, und die Sonne scheint...und man vielleicht auch noch einen Picknickkorb...“
Blödsinn!“ sagte Bruno.
Fiete zog sich hinter sein Bierglas zurück und für einen Moment herrschte absolutes Schweigen.
Dann werde euch jetzt mal aufklären“, sagte Bruno.“Das Beste am Sex ist nämlich: Wenn dabei was schief geht.“
Wir waren sprachlos. Selbst die Ältesten unter uns hatten so einen Blödsinn ihr Lebtag noch nicht gehört.
Das Beste am Sex ist“, sagte er, “wenn etwas dabei schief geht, und schon nach nur knapp zwei Jahren... sitzt einer neben dir auf`m Sofa und klaut dein Käsebrot.“ Er wuschelte mir durch die Haare, klopfte mir auf die Schulter und sein Grinsen wurde nur noch von seinen Ohrläppchen aufgehalten. Er warf einen fragenden Blick in die Runde.
Mensch“; sagte Fiete Osterhaus plötzlich, “Bruno is schwanger!“
Ach wat“, sagte Bernd Claasen,“ das is ja`n Ding.“








Donnerstag, 10. Februar 2011

Eisenherzchen

Eisenherzchen

Deine Oma ist doch nicht ganz von dieser Welt“; sagte Papa, wann immer von seiner Mutter die Rede war.
Deutlicher wurde er nicht, das hätte nicht zu seinem kultivierten Selbstbild gepasst.
Papa hatte fünfzig Paar Schuhe im Schrank, ließ sich sein Rasierwasser aus Finnland schicken und hatte einen Französischkurs besucht. Nur um im Restaurant angemessen bestellen zu können.

Oma war wie eine Butterblume an der Autobahn, wie eine Silberdistel mit sehr weichen Stacheln, und wie eine Laterne im Sturm, die kein Wind der Welt je ausblasen konnte.
Ich besuchte sie jeden Samstag von zwei bis fünf, wenn Papa mit seinem Auto in der Waschanlage war.
Den Stern auf Hochglanz bringen“, wie er sagte.
An solchen Samstagen waren wir „Mädels“ dann ganz unter uns.
Auch wenn ich erst knapp dreizehn, und Oma schon zweiundsiebzig war.
Papa ließ mich vor ihrem Gartentor aussteigen, und holte mich da auch wieder ab. Er kam nie mit rein.
Oma stand immer schon in der Tür - wie ein runder Felsen mit einer blauen Kittelschürze.
Hallo Anni“, sagte sie dann, und drückte mich an ihren Busen. Sie roch nach Zimt und reifen Äpfeln.
Manchmal gab es bei Oma Kekse und manchmal Topfkuchen.
An diesem Samstag hatte sie Waffeln für uns gebacken, und dazu gab es natürlich Tee mit Sahnewölkchen.
Mein Ostfriesentee“, sagte sie, „war das einzige, was ich damals an der Riviera wirklich vermisst habe.“
Wir hatten alte Fotos angesehen und dabei eine Postkarte mit einem Strand-Motiv entdeckt.
Hiwiera?“Ich hatte den Mund voller Waffeln und der Puderzucker staubte über den Küchentisch.
Ja, „Riviera“, das ist in der Toscana, in Italien. Als Opa noch lebte, waren wir da oft im Urlaub. In Bella Italia.“
Wie ist es in in Italien?“
Oma sah einen Moment lang in die Ferne, dann klaubte sie einige Krümel von ihrer Bluse, strich ihre Schürze glatt und erhob sich. „Erklären kann man das schlecht“, sagte sie,“aber ich kann es dir zeigen. Einen Moment.“
Sie stieg die Kellertreppe hinab und kam einige Minuten später mit allerlei Gerätschaften zurück.
Zuerst“, sagte sie,“ brauchen wir mal ganz viel Sonne. Mach mal die Augen zu.“
Oma stellte eine Höhensonne vor mich hin und schaltete sie ein. Es wurde sehr hell, und unglaublich warm auf meiner Haut. „Dann brauchen wir auf jeden Fall Wind. Wind gibt es da nämlich immer.“ Sie ging um den Tisch herum und platzierte einen Ventilator hinter der Lampe, und die Brise kühlte mein Gesicht.
So, jetzt halt mal diese Muschel an dein Ohr, da ist das Meeresrauschen drin.“
Sie hatte recht, es rauschte, und ich glaubte sogar das Geschrei der Möwen hören zu können.
Oma füllte warmes Wasser in eine Schüssel, dann zog sie mir Schuhe und Strümpfe aus. „Und nun die Füße in den Ozean, aber pass auf, dass dich nicht die Krebse beißen.“
Ich zog erschrocken die Knie an.
War ein Scherz, mein Schatz. Fehlt noch was? Oh ja, du brauchst unbedingt noch Sonnencreme und etwas Salz auf den Lippen. So, fertig. Jetzt bist du in Sestri Levante.“
Ich lächelte, es war wirklich so, als wäre ich ganz woanders.
Ein warmer Lufthauch strich durch mein Haar und meine Füße plantschten in den Weiten des Atlantik.
Das Meeresrauschen, der Geruch der Sonnenmilch und der salzige Geschmack auf meiner Zunge. Es war perfekt.
Oma, siehst du auch die großen Schiffe da am Horizont?“
Sie schloss die Augen: „Oh ja, die sehe ich.“
Und da rechts, die Kinder, die in den Wellen herumtoben?“
Ja, die auch.“
Und auch die flachen Häuser, die wie Lego Steine aussehen?“ „Ja.“

Am 12. September, es muss am frühen Morgen gewesen sein, kam der Schlaganfall. Er nahm ihre Freiheit, er nahm ihre Sprache und ließ nur ein schräges Lächeln übrig.
Am schlimmsten für mich war der beständige Strom von Tränen, der nicht aufhören wollte.
Eine ganz normale Folge der Erkrankung, und kein Anzeichen von Traurigkeit“, hatte dieser verlogene Stationsarzt mir erklärt. Ich wusste es besser.
Oma blieb nicht lange in der Gefangenschaft der Bettpfannen und Katheter, das hätte nicht zu ihr gepasst.

Papa hatte recht mit seiner Behauptung, dass Oma nicht von dieser Welt gewesen war, und am 23. Januar machte sie sich auf den Weg.
Bei ihrer Beerdigung gefror mir der Schnupfen an der Backe und ich kann mich nicht erinnern, jemals an einem kälteren Ort gewesen zu sein, aber meine Tränen behielt ich für mich.
Die habe ich ihnen nicht gegönnt.

Papas Geschäfte gingen zu der Zeit nicht besonders gut, und so hatte er Omas „Bruchbude“ schneller verkauft, als die Blumen auf ihrem Grab verwelken konnten.
Sentimentalitäten muss man sich leisten können“, sagte er.

Gestern ging ich durch die Elektro- Abteilung von unserem Supermarkt, ich brauchte einen neuen Wecker,als ich es plötzlich sah. Ein Sonderverkauf von Höhensonnen und Ventilatoren.
Ich ging darauf zu, und ich konnte nicht anders, als ganz sanft mit dem Zeigefinger über ihren Rand zu streichen.
Sie verkauften hier keine Muscheln mit Meeresrauschen und es roch auch nicht nach Waffeln, aber trotzdem war auf einmal alles wieder da.
Oma?“; flüsterte ich.
Ja, mein Schatz.“
Siehst du die Eisbude da hinten?“
Ja.“
Oma?“
Ja.“
Kriege ich einen Euro?“